: Schöner ist es in Norddeutschland
Eigentlich ganz wunderbar, diese Jahreszeit – und nachts spricht man bei Domian über gleichberechtigten Telefonsex: Der Herbst – einige Betrachtungen zu einem Thema, das uns gerade jetzt besonders angeht ■ Von Detlef Kuhlbrodt
Herbst: Problemjahreszeit. Nichts passiert eigentlich. Das ist schön, daß nichts passiert. Soll sich das sogenannte Geschehen doch anderswo wichtig machen. Draußen ist es kalt. Noch nie seit Beginn der Temperaturmessungen in Tempelhof vor knapp 50 Jahren hat es einen so kalten 27. Oktober gegeben. Minus 3,5 Grad. Das ist Rekord, und das schicke Eckzimmer mit den drei Fenstern wird zum Verhängnis.
Wer Ofenheizung hat und die Fenster ziehen – und daß man irgendwann den Boden hat abschleifen lassen, war wohl doch nicht so eine gute Idee –, rückt den Schreibtisch immer weiter vom Fenster weg und liest Bücher am Ofen. Gleich ist Reformationstag. „Darum kann vor Gott in der Wahrheit nicht sein, wie es vor der Welt erscheint, sondern jedes Ding ist umgekehrt, und ein umgewendeter Silenus.“ (Sebastian Franck, Paradoxa, Jena 1909).
Mein Herbst am Nachmittag ist sozusagen überdeterminiert. Denn erstens wird der Herbst seit der Antike der Melancholie zugeordnet; wie, zweitens die Tageszeit zwischen 15 Uhr und 21 Uhr und drittens das Lebensalter zwischen 28 und 42, berichtet Vindician, der auch schon fast fünfhundert Jahre tot ist.
Allerdings sind die Eigenschaften, die man in der Temperamentenlehre sowohl dem Herbst als auch der Melancholie zuordnet unterschiedlich: während antike Autoren wie Galen für „kalt-trocken“ plädieren, erwähnt George Cheyne in seinem Buch „the english malady“ (1733) „Kälte, Feuchtigkeit“ und „all die feinen Wassertröpfchen, die die Kanäle und Fibern des menschlichen Körpers durchdringen“, ihn „seine Festigkeit verlieren“ lassen und ihn so für „Wahnsinn“ und „Melancholie“ prädisponierten.
Wie auch immer. Die Vorstellung, nach draußen zu gehen, ist jedenfalls nicht besonders attraktiv. Macht man trotzdem, weil es ja auch schön ist, im Mantel mit hochgeschlagenem Kragen herbstliche Orte aufzusuchen, in Stiefeln und zwei Paar Strümpfen und kohlenstaubigen Handschuhen über nebensächliche Friedhöfe zu gehen. Über irgendeinen völlig nebensächlichen Friedhof. Mit Regen im Gesicht an tote Leute denken und Grabsteine lesen.
Leute mit komischen Namen haben gelebt und sind dann gestorben. Hier liegt „Mutti Weidler“ unter einem Grabstein auf dem Friedhof in der Bergmannstraße. Mutti Weidler hat von 1900 bis 1992 gelebt. Danach Astern kaufen. Rostbraune Astern und Kaffee mit Zimt und Weinbrand. Im BBC läuft ein alter Hit von Moby: „Go!“
Das Licht im Herbst ist großartig und wird an sonnigen Vormittagen mit Rauch im Hinterhof noch besser. Draußen ist es grau. Bißchen Regen weht an die Fenster. Der Tierpark im Osten am Nachmittag im Regen eignet sich hervorragend dazu, die gewöhnliche Trostlosigkeit des Herbstes in existenzielle Melancholie zu verwandeln. Die Tiere im Streichelzoo wollen gar nicht rauskommen. Dann kommen doch welche.
In der Caféteria des Tierparks im Osten ist es immer sehr unwirklich, weil die Caféteria des Tierparks im Osten ja noch die Caféteria im Tierpark der DDR ist; eine irreale Insel eines völlig trostlosen Staates, den es ja auch nicht mehr gibt. In der Caféteria hallt es. In fast allen öffentlichen Einrichtungen der DDR hat es immer gehallt. Wegen STASI.
Bockwurst, Kaffee und Goldkrone-Weinbrand
Lebensmürrisch angezogene Kleinfamilieninsassen fühlen sich ununterbrochen benachteiligt und verlangen nach anderen staatlichen Lebensvollzugsbestimmungen. Dann Bockwurst, Kaffee und Goldkrone Weinbrand, denn das Leben ist ja schließlich kein Ohnesorgtheater. Die Scheinwerfer der Autos glitzern naßblau auf der Straße vor dem Zoo in der Dämmerung. Die zerstörte Weltzeituhr am Alexanderplatz schaut deprimiert in eine deprimierende Umgebung.
Nachts spricht man bei Domian über „gleichberechtigten Telefonsex“, ohne daß da jemand unterdrückt werden würde. Eine „Telefonsexerin“ klagt darüber, daß viele Männer nach Sex mit Tieren verlangen würden. „Wie bist du denn drauf“, fragt Judith, die im Nebenzimmer wohnt, wo die jungen Raver hausen und ihr Haschisch spritzen, während sie Funny von Dannen hören und ihre Hochbetten montieren.
Die Stimmung wechselt häufig: Eigentlich ist der Herbst ganz wunderbar! Vor ein paar Tagen kam zum Beispiel ein freundlicher türkischer Mann in das Antiquariat, wo ich ab und an rumsitze. Zwei große Plastiktüten mit Socken hatte er dabei und breitete mit gewinnendem Lächeln Socken aus auf dem Schreibtisch. 39-42 oder 43-46. Vier Stück für acht Mark. Billig, praktisch und prima, zumal die Heizung auch nicht so richtig funktionierte.
Seit 28 Jahren lebe er im Wedding. Mit seinen Socken gehe er in jeden Laden. Nun ja, Kohlenschleppen sei eine noch beschwerlichere Arbeit. Lange sprachen wir noch darüber, daß es überall solche und auch solche gebe. „Verstehen Sie mich?“
Herbstliche Unternehmungen werden unternommen. Am Samstagnachmittag fährt man zum Beispiel nach Tempelhof ins Wenckebachkrankenhaus, weil da grad ein Freund auf der HNO-Station liegt. Vor dem Eingang steht ein Container, wo OP-Abfall reingeschmissen werden soll (abbe Ohren und Nasen.) In das „O“ vom „OP“ hat jemand einen Smiley reingemalt. Sehr schön auch die „Liegendkrankenvorfahrt“.
Neben dem Krankenhauses, an der Albrechtstraße, ist ein Park, der in der tiefstehenden Sonne. Vor dem Freigehege, in dem Rehe mit dünnen Beinen herumspringen, steht ein Schild: „Wollt Ihr uns ein wenig schmeicheln/so gebt uns Rüben, Mais und Eicheln./Um eines wollen wir Euch noch bitten:/ verschont mit Zucker uns und Schnitten,/mit Speiseeis und frischem Brot:/wenn nicht, dann sind wir balde tot.“ Zwei Rentner in auberginefarbenen Anoraks bringen Kartoffelschalen. In einem anderen Park, paar Meter weiter, liegen Leute auf klobig aussehenden Liegestühlen.
Zweitausend „voll geile Parties“
Samstagnacht stehen drei Türkenjungs, die sich sehr schick gemacht haben, am Wittenbergplatz. Einer kommt aus Berlin, die anderen zwei sind seine Gäste aus Norddeutschland. Sie unterhalten sich darüber, ob sie sich jetzt noch am Hermannplatz Hasch besorgen sollten oder gleich nach Hause, weil in Huxley's Neuer Welt grad keine Party sei. Woanders wissen sie auch nicht. Das nächste Mal wolle er sich „für sechs Mark“ den Flyer besorgen, sagt der schwarzgelockte Gastgeber. Da ständen 2.000 „voll geile Parties“ drin. Seine Gäste finden es in Norddeutschland schöner. Da gäbe es coole Pyjama-House-Parties mit sexy Mädchen und so. Seit drei Jahren gibt es den Flyer umsonst.
Am Sonntagnachmittag schaut man im Herbst vor dem Zaun des Sportplatzes am Südstern Verbandsliga-Fußballspielen zu. Das machen viele Männer so. Es gibt kaum etwas Schöneres, als im Herbst Verbandsligafußballspielen zuzuschauen und dazu Zigarettenrauch in die Sonne zu blasen.
Später wieder Bücherlesen. Michel Foucault schreibt, der Geist des Menschen in seiner Endlichkeit sei nicht so sehr ein Funken des großen Lichts, als vielmehr „ein Bruchstück eines Schattens“, und es ginge darum, „um jeden Preis das Relative aufrechtzuerhalten und absolut verstanden zu werden.“
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