■ Schlechte Nachrichten für Ronald Biggs: London beantragt Auslieferung: Gesetz ist Gesetz
Rio de Janeiro (dpa/AP/taz) – Es geschah im letzten Sommer. Im August dieses Jahres schlossen Brasilien und England einen Auslieferungsvertrag – jetzt kündigte die britische Justiz an, dem seit 1970 in Brasilien lebenden Postzugräuber Ronald Biggs den Prozeß machen zu wollen. Den ersten Interviewwunsch in dieser Angelegenheit nahm der 68jährige noch nichtsahnend und wie immer gut gelaunt entgegen. Unmittelbar danach bekam Ronald Biggs jedoch von seinen Anwälten die ungeschminkte Hiobsbotschaft zu hören: Der von London jetzt an Brasilien gestellte Auslieferungsantrag sei ernst zu nehmen. „Lassen Sie am besten eine Zeitlang nichts von sich hören“, lautete die Empfehlung.
Der sonst red- und leutselige Brite folgte dem Rat aufs Wort. „Er hat sich verschanzt“, meldete ein Team des brasilianischen Fernsehens, das am schwülen Mittwoch abend (Ortszeit) vergeblich an der Tür des Hauses im Künstlerviertel Santa Teresa in Rio de Janeiro geklingelt hatte. Touristen konnten den weltberühmten 68jährigen, der sich gern mit Papagei auf der Schulter und Bierbecher in der Hand zeigt, an diesem Tag auch mit Barem nicht herauslocken. Die feste Stimme von Biggs' Sohn Michael (23) auf dem Anrufbeantworter wimmelte Gesprächsversuche ab. „We'll call you back.“
„Ich will in Brasilien bleiben – bis zum Tod“
Biggs bangt. Erstmals nach sehr langer Zeit kann sich „Ronnie“, wie Nachbarn und Touristen ihn liebevoll rufen, in seinem nunmehr 26jährigen brasilianischen Exil nicht mehr 100prozentig sicher fühlen. Kurz nach der Ratifizierung des Auslieferungsabkommens hatte er sich noch gelassen gezeigt. „Ich habe keine Angst vor einer Auslieferung, aber man kann nie wissen, was das Leben einem so beschert“, sagte Biggs damals der dpa. Er wolle in Brasilien „bis zum Tod“ bleiben.
Sein Schicksal liegt nun in den Händen der Mitglieder des Obersten Gerichts Brasiliens – ein Prozeßbeginn ist vor Anfang 1998 aber laut Experten nicht zu erwarten. „Das Gericht dürfte den Antrag Londons ablehnen“, meint auf Anfrage ein Sprecher des Außenministeriums in Brasilia. „Bei uns ist das Verbrechen, für das Biggs von den britischen Behörden verfolgt wird, nämlich längst verjährt“, erklärte er. Biggs selbst räumte im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP zur jüngsten Entwicklung ein: „Gesetz ist Gesetz, und ich habe mich einer Gefängnisstrafe entzogen.“ Er fügte jedoch hinzu: „Ich bin ein positiv denkender Mensch und nehme an, daß ich eher nicht ins Gefängnis gehe.“
Beim Überfall auf den Postzug London–Glasgow im August 1963 hatte die 16köpfige, von Biggs angeführte Bande 2,6 Millionen Pfund (damals 28 Millionen Mark) erbeutet. Bald dingfest gemacht und zu 30 Jahren Haft verurteilt, konnte Biggs 1965 aus dem Gefängnis in Woodsworth ausbrechen. In Paris unterzog er sich schnell einer Gesichtsoperation. Und nach Zwischenaufenthalten in Australien, Argentinien und Venezuela ging die filmreife Flucht 1971 am Zuckerhut zu Ende. Erst drei Jahre später bekam Scotland- Yard-Chefinspektor Jack Slipper Wind vom Zufluchtsort des Verfolgten. Doch da hatte Biggs bereits auf andere Weise der Jagd ein vorläufiges Ende gesetzt: Er war Vater geworden, und das Sorgerecht für seinen Sohn Michael, der aus einer Beziehung zu einer Tänzerin stammt, bedeutete Ruhe.
Heute kommt der Brite in Rio, wie er stets beteuert, „ohne einen Penny von der Beute des Überfalls“ aus. Arbeiten darf er in Brasilien nicht. Aber es finden sich immer noch Touristen, die zwischen 75 und 200 Mark zahlen, um mit dem „berühmtesten Räuber nach Robin Hood“, wie er sich selbst nennt, ein Bier in dessen Haus zu trinken. Ein paar Mark mehr kostet das T-Shirt mit dem Aufdruck: „Ich war in Brasilien und fand Ronnie Biggs... ehrlich.“ „Die Zahlen auf meinem Bankkonto werden immer kleiner, die Besucher seltener“, beklagte er sich erst vor kurzem. Das dürfte sich mit dem Auslieferungsantrag ändern. Emilio Rappold
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