: Die vom Gymnasium haben den größten Nachholbedarf
■ Nach 30 Jahren wieder ein Unternehmen von innen sehen: Wenn LehrerInnen Praktikum machen, können sie was erleben
Den Einstellungstest für Auszubildende hat der Bio-Lehrer gemopst und nach Hause mitgenommen. Am Stubentisch hat er zu grübeln begonnen. Was ist der Unterschied zwischen einem Kartell, einem Syndikat und einem Trust? Der Naturwissenschaftler weiß es nicht. Noch ein paar gemeine Fragen, dann findet er einen Wust Dreisatz-Aufgaben über einem englischen Brief. Der Bio-Lehrer ist empört: „Das war ganz schön kompliziert! Ich kann verstehen, wenn Schüler mit den Tests nicht klarkommen.“
Gut, daß er das jetzt weiß. Auch sonst hat sein Praktikum bei einer Hamburger Handelsfirma eine Menge gebracht, versichert er, als wieder Pädagogen ihn umgeben. Eine Woche lang über Schultern gucken, jeden Tag in einer anderen Abteilung, lernen statt lehren: ein Betriebspraktikum, wie es in den vergangenen Wochen 75 Hamburger LehrerInnen absolviert haben, vermittelt von der Handelskammer und der Schulbehörde. Gemeinsam haben beide das Pilotprojekt Innenansichten – Lehrer erleben Wirtschaft organisiert.
Denn wer seit dem letzten Studijob kein Unternehmen mehr von innen gesehen hat, kann ElftklässlerInnen nicht erklären, wie sie beim Lehrstellen-Test überzeugen. Dabei ist „Berufsorientierung eine Aufgabe von Schule, die man nicht von der Hand weisen kann“, sagt Behördenmitarbeiter Ottmar Zeiz, der ein diplomatischer Mann ist und vorsichtig ausdrückt, was Karl-Heinz Schult-Bornemann von der Benzin-AG Esso herausknallt: „Wir wollen, daß Schulabgänger, die zu uns kommen, die Qualitäten haben, die sie später brauchen.“
Also hat Ingeborg Kunau, Lehrerin am Gymnasium Lohbrügge, nach dreißig Jahren Kinder gegen Kautschuk getauscht. Sie verbrachte eine Woche bei einem Importeur. „Nützlich machen“wollte sie sich, sagt Kunau, die Gemeinschaftskundelehrerin, die bei ihrem Kautschuk-Händler „nicht mal Kaffee kochen“mußte. Statt dessen „habe ich gelernt, wie man mit Kunden umgeht“.
„Am liebsten sollten wir die Arme anlegen und nichts berühren“, klagt derweil ihr Kollege Peter Puhle. Er hat beim Axel-Springer-Verlag hospitiert. „Das war schon interessant. Aber die Firma ist viel zu groß, als daß man selbst etwas machen könnte.“Die ebenfalls große Firma Esso hat ihren PraktikantInnen deshalb einen eigenen Frage-und-Antwort-Beauftragten verpaßt – und ihnen Aufgaben zugeschanzt. Die Auswertung des Pilotprojekts beispielsweise. „Sehr wünschenswert, sehr lohnend“, bilanziert Praktikant Joachim Reimers und knipst einen Projektor an. An der Wand wabert, was seine KollegInnen gelernt haben: Wie man mit Neuen Medien umgeht. Wie Bewerbungsgespräche laufen, und welche Fremdsprachen Azubis brauchen. Und – wichtig – wie bedeutend Zeugnisse sind.
Früher habe an Gymnasien oft die Einstellung geherrscht: „Wir bilden nur für die Uni aus“, erzählt ein Deutschlehrer. Weil diese Ansicht abgeschafft gehöre, durften GymnasialpaukerInnen zuerst an dem Pilotprojekt teilnehmen. „Sie haben den größten Nachholbedarf“, verkündet Ottmar Zeiz – und lud die KollegInnen ein, die an den Gymnasien die Berufsbildung koordinieren. Wenn das Projekt in die nächste Runde geht, sollen mehr GesamtschullehrerInnen dabei sein, danach wollen Behörde und Handelskammer Real-, Haupt- und Berufsschulen mit einpacken.
„Ich kann mir gut vorstellen, daß so ein Projekt sinnvoll ist“, pflichtet Gudrun Zimdahl bei, die stellvertretende Vorsitzende der GEW, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. „Die Schüler profitieren schließlich davon, wenn ihre Lehrer die Abläufe in den Betrieben kennen.“Schließlich befiehlt das Hamburger Schulgesetz, daß „in allgemeinbildenden Schulen in die Berufswelt einzuführen“sei.
„Wenn das Projekt weitergeht, wird es bestimmt noch Proteste geben“, schätzt Ingeborg Kunau. Denn viele LehrerInnen mußten ihr Praktikum während der Ferien machen – „freiwillig“, beharrt Kunau. Keine Lehrerin ist verpflichtet, wochenweise in einem Betrieb zu arbeiten. „Aber ich werde nach dem Praktikum im Unterricht andere Akzente setzten“, sagt Kunau – in Gemeinschaftskunde weniger über Konjunktur reden und mehr über die Arbeitswelt.
Das ist zwar löblich, aber nicht genug, meint der Deutsche Lehrerverband. Er möchte Schulpraktika für GeschäftsführerInnen schaffen. „Die Wirtschaft“, sagt Pressesprecher Peter Braasch, „hat doch oft keine Vorstellung mehr, was die Schulen leisten.“Judith Weber
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