Wand und Boden
: Häuser für Hippies

■ Kunst in Berlin jetzt: Deckert, Pitz, Matta-Clark, Lockhart

Der leere Raum bei Johnson& Johnson sieht nach Beckett-Inszenierung aus. Links auf dem Tisch steht ein Holzkasten, rechts liegt eine Fotokopie auf dem Sockel, in der Mitte grummelt ein CD-Player. Der Stuhl am Fenster gehört nicht zur Installation oder was immer hier präsentiert wird. Es sind Reste, ein letzter Blick auf die Arbeit von Stephan Deckert, der im Juni Selbstmord begangen hat. Eine Ausstellung mit Gemälden aus bald zehn Jahren war lange schon für Oktober geplant, dann gab es Unstimmigkeiten mit der Erbengemeinschaft, und jetzt fehlen die Bilder.

Für Living in China II wurden Marginalien zusammengetragen, die zumindest etwas von der vergrübelten Art Deckerts wiedergeben. Der Titel bezieht sich auf ein frühes Siebdruckposter, das der konzeptuell arbeitende Maler für die HdK-Klasse von Tajiri angefertigt hatte: Rotgesichtige Krieger schwingen Fahnen. Pop-art trifft sich mit Agitprop, eine Spielerei mit Zitaten der Politkunst der siebziger Jahre. Die Holzkiste entpuppt sich als „Wittgenstein- Koffer“, für den Deckert lauter Miniaturen auf zentimetergroße Blöcke gemalt hatte – seltsame Szenen aus dem Anatomieunterricht, militärische Paraden, Porträts. Man kann die einzelnen Teile in einem beigelegten Bleirahmen kombinieren, dann entstehen bildhafte Sätze, in Anlehnung an die vermischten Bemerkungen des Philosophen. Selbst das auf CD gebrannte Ateliergespräch, das die Galeriebetreiber im Februar mit Deckert geführt hatten, wird nach einer Weile faszinierend. Zögernd holt der Maler für den Besuch ein Bild aus dem Regal, erklärt kurz, daß die Kunst sein einziges Kapital darstellt, und verwirft gleich wieder die Idee, das Gemälde auszustellen, weil ein Braunton nicht ganz stimmt. Dann lacht er plötzlich und meint, das er womöglich sowieso farbenblind ist.

Bis 8.11., Do.–Sa. 16–19 Uhr, Lehrter Straße 35

Das Szenario aus Stuhl, Foto, Tür und Fenster von Hermann Pitz scheint wie für das Seitenkabinett bei Franck + Schulte gemacht, obwohl die Arbeit Junge Marseille, 1983 weit zurückliegt. Trotzdem sind sämtliche Teile der Installation so proportioniert, als wären sie auf den Galerieraum abgestimmt. Die verglaste Tür bildet mit dem Armlehnstuhl eine Einheit, die Ansicht der großformatigen Fotografie wird perfekt durch eine vorgelagerte Glasscheibe gerahmt, die selbst wieder von zwei reduzierten Schrankbrettern eingefaßt ist. Die präzise Anordnung ähnelt einem Experiment, bei dem man sich unwillkürlich an Marcel Duchamp und sein großes Glas erinnert fühlt. Nur das Foto paßt nicht zur Legende vom Künstlerwissenschaftler: Dort sieht man lediglich einen kleinen Jungen, der unschuldig mit seinem Blechauto spielt.

Die ebenfalls bei Franck + Schulte ausgestellten Zeichnungen von Gordon Matta-Clark wirken erstaunlich mathematisch. Zwischen 1969 und seinem frühen Tod 1978 entstanden, spiegeln sie Matta-Clarks Weg von Land-art und Prozeßkunst zum interventionistischen Künstler wider, dessen architektonische Entwürfe für das Museum zeitgenössischer Kunst in Chicago, das New Yorker MOMA und die documenta VI entweder abgelehnt wurden oder nicht mehr realisiert werden konnten. Insofern funktioniert die Ausstellung auch wie eine Retrospektive weitgehend unbekannter Projekte.

Zu Beginn war Matta-Clark jedoch vor allem von kosmischen Ordnungen angetan. Er zeichnet obskure Kakteen ab, in deren Formation so etwas wie eine chemische Molekularkette durchschimmert. Offenbar sucht der junge Künstler nach dem Geist in der Natur, der sich in bunten „Energy Trees“, psychedelisch gehaltenen „Ideal Landscapes“ oder eben in verwirrend umherfliegenden Pfeilen zeigen soll – Panamarenko auf Acid. Fast zeitgleich entstehen auch die ersten „Cut Drawings“ als Vorstudien für seine mit der Kettensäge zerschnittenen Häuser, auf einer anderen Serie zirkelt Matta-Clark Halbkreise aufs Papier, deren Addition zerklüftete Flächen herausbildet. Am Ende stehen hippieske Konstruktionen für „Ballongebäude“, die Matta- Clark gern in New York schweben gesehen hätte – zwischen Empire State Building und den gegenüberliegenden Wolkenkratzern. Eine ziemlich schwindelerregende Angelegenheit.

Beide bis 5.12., Mo.–Fr. 11–18, Sa. 11–15 Uhr, Mommsenstraße 56

Bisher spielten die Kurzfilme und Fotoinszenierungen von Sharon Lockhart in einer merkwürdig phlegmatischen Teenager-Welt aus Horror und Verzweiflung, in der sich zwischen Angstvisionen und „Special effects“ nicht trennen läßt. Ihre Protagonisten jedenfalls standen immer am Abgrund und blieben doch regungslos – egal ob beim ersten Kuß oder im Krankenbett. Dabei geht es auch um die kindliche Aneignung von Sexualität, die sich noch nicht durch ein konkretes Begehren artikuliert.

In ihrem neuen, auf 16 mm gedrehten Film „Goshogaoko“ hat Lockhart die Basketballspielerinnen einer japanischen Schulmannschaft beim Training beobachtet. Zunächst sieht man allerdings nur eine verlassene Sporthalle, an deren Längswand ein roter Theatervorhang darauf hindeutet, daß Realität und Fiktion hier untrennbar miteinander verzahnt sind. Schon im nächsten Moment traben die Mädchen ein paar Runden lang leise schnaufend vorbei, trippeln auf der Stelle und machen Streckübungen. Die starre Kamera verfolgt das ohnehin spärliche Geschehen und ist dabei stets um Neutralität bemüht wie bei einem frühen Bruce-Nauman-Video. In sechs Einstellungen von jeweils zehn Minuten kann man die disziplinierten Bewegungen kaum noch von meditativem Ausharren unterscheiden. Deshalb erscheint die kollektive Fußmassage kurz vor Schluß wie ein Ausbund an Zärtlichkeit.

Heute und morgen, 13.30 Uhr, Cinema Paris, Kurfürstendamm 211 Harald Fricke