Griechische Richter verurteilen Bonn

■ Überlebende eines Massakers, das deutsche Truppen 1944 bei Delphi verübten, erstreiten Schadenersatz. Die Bundesregierung lehnt jede Zahlung ab. Jetzt kommt der Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Berlin (taz) – Ein griechisches Gericht hat Deutschland gestern dazu verurteilt, fast 60 Millionen Mark Entschädigung an die überlebenden Angehörigen der Opfer eines Massakers deutscher Truppen im Jahr 1944 zu zahlen. 162 überlebende Bewohner des Dorfes Distomo hatten vor dem Gericht der Stadt Levadia ihre Ansprüche geltend gemacht. Bonn lehnt die Forderungen ab: Das Gericht sei völkerrechtlich nicht zuständig.

Nach einem Partisanenüberfall auf einen deutschen Armeekonvoi waren im Juni 1944, gegen Ende der deutschen Besatzungszeit in Griechenland, deutsche Truppen in das 500-Seelen-Dorf eingezogen. Zwölf junge Männer, von den Deutschen bei der Feldarbeit angetroffen, wurden sofort umgebracht – anschließend fast die Hälfte der Dorfbevölkerung, insgesamt 218 Menschen.

Das Urteil in Sachen Distomo ist nur das erste, weitere Gerichtsverfahren dürften folgen. Das Massaker in dem Dorf war nur eine von vielen Greueltaten der Deutschen in Griechenland. Etwa 130.000 Griechen wurden zwischen 1941 und 1944 ermordet oder verschleppt, darunter auch etwa 65.000 griechische Juden. 300.000 Menschen verhungerten oder erfroren im Winter 1942/43 in Athen, weil die Deutschen Lebensmittel und Brennstoffe beschlagnahmt hatten. 125.000 Gebäude wurden zerstört.

Auf der Pariser Konferenz der Siegermächte 1946 wurden die Schadenersatzansprüche Griechenlands auf 7,5 Milliarden Dollar beziffert – die Deutschland freilich nie zahlte. Auch die 7,5 Milliarden Reichsmark, die die deutsche Besatzungsmacht 1942 als „Zwangsanleihe“ von der griechischen Zentralbank erhielt, sind nie zurückgezahlt worden.

Lediglich 115 Millionen Mark bezahlte die Bundesrepublik 1960 an die griechische Regierung „zugunsten der aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffenen griechischen Staatsangehörigen, die durch diese Verfolgungsmaßnahmen Freiheitsschäden oder Gesundheitsschädigungen erlitten haben“. So steht es in einem Vertrag zwischen Deutschland und Griechenland vom 18. März 1960. Pro Opfer macht das 884 Mark.

Dafür ließen sich die Deutschen in Artikel III des gleichen Vertrages bestätigen, daß Griechenland fürderhin keine weiteren Ansprüche mehr stellen werde. Damit war die Sache für die Bundesregierung erledigt. Als 1965 der damalige griechische Botschafter in Deutschland bei Bundeskanzler Ludwig Erhard wegen der Rückzahlung der Zwangsanleihe vorsprach, beschied ihm Erhard brüsk, damit müsse sich Griechenland bis zur deutschen Wiedervereinigung gedulden.

Auch danach ist nichts passiert. Schätzungen gehen davon aus, daß sich die Gesamtsumme der griechischen Reparationsansprüche je nach Zinsberechnung inzwischen auf 35 bis 70 Milliarden Mark belaufen dürften. Als der griechische Botschafter 1995 wieder einmal vorsichtig im Auswärtigen Amt vorsprach, wurde auch er abgewimmelt – 50 Jahre nach Kriegsende, so hieß es, seien Reparationsforderungen nicht mehr angebracht.

Die BewohnerInnen von Distomo sind anderer Meinung. 1995 hatten etwa 3.500 Angehörige von Opfern aus der Region Kalavrita und Distomo begonnen, ihre Ansprüche an die Bundesregierung zu formulieren. Die griechische Regierung gab ihnen dabei keine Unterstützung, wohl aber der Provinzpräfekt Yannis Stamoulis. Er ließ die Ansprüche sammeln und führte die Klage treuhänderisch mit der Autorität der Präfektur.

Die Bundesregierung hatte stets die Zuständigkeit des Gerichts in Zweifel gezogen und sämtliche Schriftsätze unbeantwortet zurückgesandt. Gestern erklärte ein Sprecher der Bundesregierung lediglich, Verfahren vor Gerichten in Griechenland, in denen über Ansprüche griechischer Privatpersonen an Deutschland entschieden werde, seien durch das Völkerrecht nicht gedeckt.

Das wissen auch die BürgerInnen von Distomo, die wohl eher darauf gehofft hatten, die Bundesregierung politisch zum Einlenken bewegen zu können. Sie wollen auf ihren Ansprüchen beharren. Yannis Stamoulis hat angekündigt, den Fall dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu übergeben. Bernd Pickert