Gespräch von Heiner zu Stefan

Mit einer mannschaftsorientierten Leistung verhilft Rückkehrer Kretzschmar den deutschen Handballern zu zwei Siegen gegen Norwegen und einer EM-Perspektive  ■ Von Claudia Thomsen

Hamburg (taz) – Heiner Brand erhob sich überraschend leichtfüßig aus seiner Dauerhocke an der Seitenlinie. Schon beim Halbzeitpfiff hatte sein etwas hohlwangig wirkendes Gesicht hinter dem grotesken Schnauzbart an Volumen gewonnen. 12:4 führte die von Brand gecoachte DHB-Auswahl da, am Ende schien im EM-Qualifikationsspiel nicht nur der unerwartet zahme WM-Zwölfte Norwegen mit 24:14, sondern auch ein wesentlich beängstigender Gegner vorerst geschlagen: die völlige Bedeutungslosigkeit.

Brands Entspannung dürfte sich noch verstärkt haben, nachdem am Sonntagmittag auch das Rückspiel in Oslo mit 23:18 (11:7) gewonnen war. Der DHB hat nun mit 5:3 Punkten sogar die Führung in Gruppe 4 übernommen. „Sieben Punkte“, schätzt der Bundestrainer, „brauchen wir.“

Schafft man es nicht nach Italien, hat Brand düster prophezeit, werde der deutsche Handball nach „noch einer Pleite“ in die Bedeutungslosigkeit rutschen. Der Anhang in der fast ausverkauften Sporthalle Hamburg zeigte sich diesem Ernst der Lage gewachsen. Unter Anleitung einer zweiköpfigen Kombo aus Nettelstedt schienen die Fans mit den Titelmelodien von „Bonanza“ und „Pippi Langstrumpf“ die Spieler daran erinnern zu wollen, das Außergewöhnliches zu vollbringen deren Berufung sei.

Früh war klar, wer den größten Heldenbonus genoß: Das satte „Kretzschmar“ übertönte alle „Schwalbs“, „Holperts“ und „Löhrs“. Nach 15monatiger, vor allem verletzungsbedingter Abstinenz war mit Stefan Kretzschmar der wohl einzige bekannte deutsche Leistungssportler in die DHB-Auswahl zurückgekehrt. Kretzschmar (24) ist ein Mann, der es outfitmäßig tatsächlich mit Pippi Langstrumpf aufnehmen kann.

Der Linksaußen des SC Magdeburg lief auf mit orangenen Tupfen im wasserstoffblonden Schopf, mit Pflastern über den Piercings an Braue, Nase und Ohren und mit „mittlerweile sieben markanten Tätowierungen an Oberarmen, Rücken und Bauch“, denen sich die hanseatische Lokalpresse vorab akribisch widmete: Fazit: „Kretzsche“ sei ein Individualist. Vielleicht ist der üppige Körperschmuck des gebürtigen Leipzigers jedoch gerade ein Beleg für dessen Teamfähigkeit, schließlich teilt der Handballer des Jahres 1994 und 1995 eine WG mit einer Friseuse, einem Piercer, einem Tätowierer und einem Fotografen.

Um den Sproß zweier DDR- Handball-Legenden ranken sich jedenfalls ganz andere Hoffnungen, als um den anderen „jungen Wilden“ im deutschen Ballsport. Jungkicker Lars Ricken steht für Pochen auf porentiefe Reinheit. Von Stefan Kretzschmar erhoffen die Fans Kunststücke von der Verschlungenheit seines Fledermaus- Tatoos, und weil Handballer ohnehin Randsportler sind, kommt auch niemand auf die Idee, Kretzschmar die schwere Rickensche Authentizitätskiste auf den Rücken zu binden.

Im wirklichen Leben bestach Kretzschmar in seinem 75. Länderspiel durch das, was eine solide Abwehrleistung genannt wird. Mit geschickten Pässen setzte er Mitspieler wie Bogdan Wenta (35) in Szene, den jeder ins Herz schließen muß, der ein Faible für flüssige Eleganz im Handball hat.

Lag es vielleicht am vielzitierten „Von Heiner zu Stefan“-Gespräch, daß sich der gepiercte Twen spektakuläre Alleingänge verkniff? Brand jedenfalls gab bekannt, daß er Kretzschmar erst nominiert habe, nachdem er den unter anderem von einem dreifachen Jochbeinbruch Genesenen in einem Vieraugengespräch über „meine Ziele mit der Nationalmannschaft“ aufgeklärt habe.

Über die taktischen Anweisungen des Coaches, der von Vlado Stenzel einst für „den besten Abwehrspieler der Welt“ gehalten wurde, muß nicht gerätselt werden. „Die Abwehr stark machen, Erfolge über Tempogegenstöße suchen und im Angriff konsequent unser Konzept durchhalten“, umreißt der Gummersbacher seine wenig glamouröse Strategie. Die Anhängerschaft war auch mit nur zwei Toren im 60minütigen Kretzschmar-Einsatz zufrieden. Jugendliche Autogrammjäger („Darf ich Ihr Schweißband haben?“) scharten sich um den Spieler mit den orangeblonden Haaren, und im Pressezentrum wurde der hochzufriedene Brand (45) von euphorisierten Fachleuten gefragt, ob er „schon jemals eine so gute Handball-Nationalmannschaft gesehen habe“.

Was sollte er antworten? Der Mann hat bekanntlich einst einen wirklich bedeutenden Sieg errungen – er wurde 1978 Weltmeister. Nun muß er Ende November eins von zwei Spielen gegen den Gruppenzweiten Slowakei (4:2 Punkte) gewinnen, um das Schlimmste zu verhindern.