■ Nebensachen aus Istanbul: Sehnsucht nach dem TV-Staatsmonopol
Vor langer, langer Zeit war der türkische Staat Monopolist in Sachen Fernsehen. In den guten alten Zeiten entschied Vater Staat, welche Musik die Türken hören, welche Kultur sie konsumieren und welche Nachrichten sie hören sollen. Wer kein Absolvent der Musikakademie war, hatte in den Musiksendungen nichts zu suchen. Harte Prüfungen standen jedem bevor, der Sprecher in einer Nachrichtensendung werden wollte. Das Postulat nach bürgerlicher Bildung für alle nahm der Staat sehr ernst. Über die Glotze wurden wir über Shakespeare und Goethe, über die Relativätstheorie und die Heldentaten des Republikgründers Atatürk belehrt.
Heute ist der staatliche Sender TRT von den privaten Fernsehanstalten an den Rand gedrängt worden. Allein die klapprige Kiste in meiner Istanbuler Wohnung empfängt zwei Dutzend Kanäle. Im Konkurrenzkampf der Privaten zog das Böse, dessen Existenz uns verschwiegen worden war, in die Stuben ein: Gewalt und Terror, Militarismus und Menschenverachtung, Pornographie und die Heilslehren islamistischer Fanatiker. Doch vor allem vollführt die Dummheit widerwärtige Tänze vor laufenden Fernsehkameras.
Den Höhenflug in der postmodernen Glitzerwelt vollbringen die Nachrichtensendungen. Mittlerweile ist es Usus, daß Schönheitsköniginnen von den Sendern als Nachrichtensprecher und Moderatoren engagiert werden – der Körper entscheidet, Kenntnisse des Türkischen werden nicht vorausgesetzt. Die männlichen Kollegen wetteifern darum, wer es in puncto Sexismus weiter treiben kann. „In“ sind blutige Kinderleichen im OP-Saal, bomben- werfende Kriegsflugzeuge, Männer, die vergewaltigen und Frauen, die morden.
Die Glanzleistungen des Gewerbes, deren zufälliger Zeuge ich geworden bin, verwischen gänzlich die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion: Eine Frau, die nachts von dem Nachbarn träumte, wurde von ihrem Ehemann durch Messerstiche verletzt. Die Frau ist Studiogast im Nachrichtenprogramm. Der Nachbar wird telefonisch ins Gespräch zugeschaltet. Der Moderator fragt den Nachbarn: „Was haben sie eigentlich im Traum dieser Dame zu suchen?“ Das Traumobjekt als Täter.
Ein weiterer Fall: Eine Frau – sie wollte Sharon Stone nacheifern – fesselte ihren Ehemann ans Bett und stach mit dem Messer auf ihn ein. Der Mann überlebte und ist natürlich Studiogast.
Der Moderator fragt: „Hat es geschmerzt? Antworten sie mir! Hat es geschmerzt?“ Oder: Eine junge Magazin-Moderatorin – sie pfegt in der Boulevardpresse ein Sex-Image – zerrt nach einer Polizeirazzia an einer festgenommenen Prostituierten, die vergeblich versucht ihr Gesicht zu bedecken. Frage: „Schämst du dich nicht, als Nutte zu arbeiten?“
Zapping in der Türkei ist ein Härtetest. Wer nach einem Abend TV noch die Nerven behält, ist entweder blind oder gefühlslos. Doch wer ein Mensch der Ratio (und der Revolution) ist, der schaltet um auf den staatlichen Traditionsender TRT. Da läuft gerade „Panzerkreuzer Potemkin“. Ömer Erzeren
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