Eine Art Gekrösereich

■ Wie ein vorsichtiger Traum: Endlich mal ein neues Ror-Wolf-Hörspiel (morgen, 21 Uhr, S 2)

Wenn es um Wucherungen an den Wänden geht, um Knoten, Auswüchse und Geschwüre, wenn Schwulstbildungen das Thema sind, Schorf, Krusten und Grinden, wenn leicht blutende Hintergründe und ein Herausrinnen aus dem Innern der Welt zur Sprache kommen, dann kann man vermuten, man befinde sich auf der Reise durch ein Wörterbuch der Pathologie. Handelt es sich bei den Schwären und Schwielen aber um die Staffage einer geheimnisvollen Welt, in der sie nach musikalischen Prinzipien sprachlich sorgsam drapiert sind, landet man ohne Umschweife bei einem anderen Herrn der Furunkel: Bei Ror Wolf.

Gut zehn Jahre sind vergangen, seit der nun 65jährige sein letztes Hörspiel fertigstellte. Doch das neue Hörstück von Ror Wolf, die morgen erstmals präsentierte „Durchquerung der Tiefe“ knüpft formal und inhaltlich eher an das Triptychon „Auf der Suche nach Dr. Q“ aus den frühen Siebzigern an, das Wolf damals als phantastisches, als intelligentes und grelles Vexierspiel zwischen Kafka, Beckett und Professor Grzimek gestaltete.

Und auch im aktuellen Hörspiel begegnet uns wieder der Welt seltsamster Menschentypus: der Forscher. Doktor Collunder fällt eines Abends, im Juli oder August, hinab, und zwar „in eine ganz andere Gegend“. Doch anders als die Gefangenen der Nautilus bei Jules Verne, befindet sich der Reisende nicht in maritimen Tiefen. Seine Unterwelt ist eher eine Art Gekrösereich, eine magenartige Landschaft mit fleischigen Flechten, Haaren, Drüsen und einem eßbaren Wandschmalz. Hier begegnet Collunder allerhand seltsamen Zeitgenossen, die mal dem pittoresken Personal der inzwischen sechsbändigen Werkausgabe Ror Wolfs, dann wieder grenzauslotenden Fieberträumen zu entspringen scheinen. Der Traum, „verstanden als radikales Teilstück der Realität“, wie es der Autor in einer Vorbemerkung zum Stück formuliert. Am Ende des zweiten Teils gibt's dann noch was fürs Herz, und ein Klavier wird erschossen.

Doch wesentlich wichtiger als die einzelnen Stationen der Expedition sind sprachliche Artistik und kompositorische Kraft dieser Reise durchs Material – so SWF- Dramaturg Hans Burkhard Schlichting, der die Produktion betreute. Wolf wandert virtuos zwischen den Welten der literarischen Avantgarden bis hin zur Postmoderne, dem Abenteuergenre des 19. Jahrhunderts, dem Grotesk- Komischen und Versatzstücken der Trivialschreibe.

Seine Radio-Reise bedeutet gleichzeitig eine Durchquerung des Erzählens und seiner Möglichkeiten. Wie die einzelnen Systeme innerhalb eines Organismus, jeweils unabhängig voneinander und doch aufeinander angewiesen, im Wechselspiel von Selbständigkeit und komponiertem Ganzen stehen, so funktioniert auch die „Durchquerung der Tiefe“.

Regisseur Hermann Naber und Komponist Cornelius Schwehr präsentieren mit ihrer Inszenierung eine sehr eigenwillige Lektüre der Vorlage. Sie befriedigt in keiner Weise die „Gier“ des Textes nach überbordenden Geräuschwelten, nach blubberndem Gären, nach dem peristaltischen Sound der Kaldaunen.

Vor allem die Musik beeindruckt durch hoch konzentriertes Gespräch mit dem Text. Sich Platitüden verweigernd, schwingt sie gelegentlich in die Vorlage ein, unternimmt dann ihre eigenen Reisen, um unvermittelt wieder zur Seite zu stehen. Das dabei entstehende, zarte Motivgeflecht gibt dem Stück eine neue Dimension.

Die erstklassig besetzte Inszenierung weht wie ein vorsichtiger Traum vorüber, wie ein zartes Suchen in der Erinnerung. Da ist noch niemand angekommen, da hat noch keiner das Ziel der Reise gefunden, da muß noch getastet werden, da hat man den Text noch nicht begriffen. Wer nach dem Hören der „Durchquerung“ und den auf S2-Kultur in einer kleinen Ror- Wolf-Retrospektive präsentierten Werken Lust auf neue Radioarbeiten des in Mainz lebenden Literatursonderlings hat, dem sei gesagt, daß auf das nächste Hörspiel nicht wieder zehn Jahre gewartet werden muß. Im Computer schlummern bereits zwei neue Projekte, sagt Ror Wolf. Robert Schoen

„Die Durchquerung der Tiefe in dreizehn dunklen Kapiteln.“

1. Teil: 6.11., 21 Uhr

2. Teil: 13.11., 21 Uhr

jeweils auf S 2-Kultur – und am 10. Januar um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk;

dort wird am 20.12. um 20.05 Uhr Wolfs letztes Hörspiel „Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbecke aus Nord-Amerika“ wiederholt.