Dutroux' Schatten

■ Das Europaparlament fordert belgischen EuGH-Richter Wathelet zum Rücktritt auf

Brüssel (taz) – Melchior Wathelet, Richter am Europäischen Gerichtshof, wurde gestern von seiner Vergangenheit eingeholt. Mit fast zwei Drittel der abgegebenen Stimmen forderte das Europaparlament den ehemaligen belgischen Justizminister zum Rücktritt auf. Wathelet müsse die Verantwortung für die verheerenden Folgen seiner Entscheidung übernehmen, den einschlägig vorbestraften Kinderschänder Marc Dutroux vorzeitig freizulassen.

Dutroux, 1986 wegen Vergewaltigung von sechs Mädchen zu 13 Jahren Haft verurteilt, war bereits nach sechs Jahren freigelassen worden. Inzwischen weiß man, daß er danach mindestens sechs weitere Mädchen entführt, monatelang in Kellerverliesen gefangengehalten und mißbraucht hat. Nur zwei von ihnen konnten lebend gefunden werden, die anderen hatte Dutroux im Garten vergraben.

Die Entscheidung, Dutroux trotz erheblicher Zweifel einiger Gutachter vorzeitig aus der Haft zu entlassen, war von dem damaligen belgischen Justizminister Melchior Wathelet getroffen worden. 1995 schickte die belgische Regierung den Christdemokraten Wathelet als Richter an den Europäischen Gerichtshof. Trotz harscher Proteste der Eltern entführter Kinder erneuerte Regierungschef Jean- Luc Dehaene vor einem Monat die Amtszeit Wathelets am EuGH.

Die Rücktrittsforderung des Europaparlaments ist deshalb auch ein schwerer Vorwurf an die belgische Regierung. Wathelets Entscheidung, heißt es im Bericht, „ist zwar im vollen Einklang mit dem belgischen Recht getroffen worden, hat aber verheerende Auswirkungen gehabt, für die er die moralische und politische Verantwortung übernehmen muß“. Das wäre vor allem für Belgien wichtig. Eine Reihe von Justizbeamten und Polizisten, denen erhebliche Schlampereien bei der Suche nach den vermißten Kindern nachgewiesen wurden, berufen sich auf das Beispiel Wathelets.

Wenn der verantwortliche Justizminister sogar befördert werde, könne man nicht die Untergebenen zur Rechenschaft ziehen. Das Europaparlament kann Wathelet nicht zum Abgang zwingen. Doch der moralische Druck berührt auch den Europäischen Gerichtshof. Dessen Autorität wird geschwächt sein, solange Wathelet auf seinem Stuhl bleibt. Alois Berger