: Neues vom Menschen Wladimir Iljitsch Lenin
Noch in der Ära Michail Gorbatschows glaubten die meisten SowjetbürgerInnen, zwischen den ersten Jahren der bolschewistischen Herrschaft und dem stalinistischen Terror ließe sich eine klare Grenze, eine zwischen Gut und Böse ziehen. Inzwischen wurden Geheimdienstakten zugänglich – und deren Lektüre hatte zur Folge, daß die RussInnen den Leninismus heute für ein stalinistisches Vorstadium halten.
Mehr noch: Jüngere Veröffentlichungen zeigen Wladimir Iljitsch Lenin als kleinlichen und grausamen Mann. 1891, als an der Wolga die Hungersnot wütete, wandte sich der 21jährige als einziger in seiner Heimatstadt Simbirsk gegen humanitäre Hilfe für die sterbenden Bauern. Seine Begründung: „Indem der Hunger die Bauernwirtschaft zerstört, zerschlägt er nicht gleichzeitig den Glauben an den Zaren, sondern auch den an Gott und wird den Bauern auf den revolutionären Weg stoßen.“
Wie die Kämpfer aus den eigenen Reihen auf den revolutionären Weg zu bringen seien, beschrieb er am 22. Januar 1919 in einem Brief an Leo Trotzki: „Könnte man nicht noch 20.000 Petersburger Arbeiter plus 10.000 Bourgeois mobilisieren, hinter ihnen Maschinengewehre aufstellen, ein paar hundert von ihnen erschießen und so erreichen, daß die Massen gegen den weißen General Judenitsch stürmen?“ Mehrmals rief Lenin die Seinen auf, Geiseln aus der Bevölkerung zu nehmen, Bauern, Priester und Landärzte – reaktionäre Intelligenz! – zu erschießen und zu erhängen. Unter seiner Regierung wurden zwei Vernichtungslager errichtet.
Lenins Biograph, Oberstleutnant Dimitri Wolkonow, gab 1994 zu bedenken, daß der Anwalt aus der Provinz schlecht für das Management des russischen Staates ausgebildet war: „Lenin führte die Revolution im Alter von 47 Jahren an. Bis dahin hatte er nur anderthalb Jahre gearbeitetet. Er hatte in sechs Fällen kleine Diebe verteidigt und keinen Prozeß gewonnen. Außer seiner Frau, Nadjeschda Konstantinowna, hatte er keine Untergebenen gehabt. Auch wußte er vom Telefon keinen effektiven Gebrauch zu machen. Lieber kritzelte er Tausende von Zetteln voll.“
Schon 1992 veröffentlichte die Zeitschrift Ogonjok die Erinnerungen des Ex-Bolschewiken und Emigranten A.Naglowski. Als junger Kurier der Partei hatte dieser den Führer in dessen Genfer Exil besucht. „Jetzt wird der Kommunist Lenin gewöhnlich als abgeklärter Weiser beschrieben, der Wahrheiten verkündete. Dabei“, so Naglowski, „war Lenin extrem nervös, überdreht und bar jeden Sitzfleisches, ein eindeutiger Neurastheniker.“
Immerhin behandelte er den jungen Kurier nach dessen Zeugnis „ohne Dünkel“. Auch gesteht Naglowski Lenin und Nadjeschda Konstantinowna Krupskaja zu, daß sie „geradezu ärmlich“ lebten. Letzteres sollte sich vor Lenins Tod gründlich ändern.
Der Dokumentarfilmer Aleksej Chanjutin hat sich jahrelang in Augenzeugenberichte über Lenins letzte Monate vertieft. Auf die Frage, was ihn am meisten überraschte, antwortet er: „Ein Asket war der nicht!“ Im hungernden Nachbürgerkriegsrußland spachtelten der Schwerkranke und seine Nächsten mehrgängige Menüs. Fetttriefende Bouletten und Hühnereier versorgten Lenins Arterien auch nach mehreren Schlaganfällen ständig mit Cholesterin.
Einige Jahre zuvor hatte der Staatslenker der Dame seines Herzens, Inessa Armand, nur ein bescheidenes Geschenk machen können: Gummigaloschen. Ob er wirklich was mit Inessa gehabt hat? Diese Frage läßt sich mit einem Ja beantworten. 1913 schrieb sie ihm aus Krakau einen Brief eindeutigen Inhalts.
Wie es weiterging, ist schon länger bekannt: 1920 starb Inessa an Cholera. Nie vorher – oder nachher – hatten seine Genossen ihren Führer so gramgebeugt erlebt wie bei diesem Begräbnis. Barbara Kerneck
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