Fliehkräfte mobilisieren

Gesichter der Großstadt: Matthias Flügge ist Vizepräsident der Akademie der Künste, Zille-Spezialist und Chefredakteur der Kunstzeitschrift „neue bildende kunst“  ■ Von Katrin Bettina Müller

Kunstzeitschriften, das kam in Frage, Journalistik in der DDR nicht. So dachte der Vater von Matthias Flügge und schenkte seinem Sohn einen Jahrgang Kunst und Künstler. Das war der Grundstein für eine „kindliche Liebe zur Malerei und zum Schreiben über Malerei“, die der Redakteur und Kunsthistoriker bis heute nicht verloren hat.

Matthias Flügge (45), der im Mai zum Vizepräsidenten der Akademie der Künste gewählt wurde, gründete 1990 zusammen mit Michael Freitag die neue bildende kunst (nbk): Das ist nicht nur die einzige Kunstzeitschrift aus Berlin, sondern auch eine gelungene Transformation einer ehemaligen DDR-Zeitschrift, der Bildenden Kunst. Bei ihr wurde Flügge, der sein Studium der Kunstwissenschaft an der Humboldt-Universität als einer der ersten mit einer Diplomarbeit zur klassischen Moderne abschloß, Mitte der siebziger Jahre Redakteur. „Unglaublich“, meint er heute, „als ich damals einen Artikel über Max Ernst geschrieben habe, war das für die BZ im Westen eine Meldung wert: Die DDR entdeckt den Surrealismus.“

Es waren einerseits Blauäugigkeit und Idealismus, die Flügge zu dem Wagnis neue bildende kunst bewog. Mit Glück wurde eine Anschubfinanzierung des Kulturfonds gestemmt. Andererseits ließ ihn die inhaltliche Sicherheit am Ziel festhalten, das was ihm an der in der DDR entstandenen Kunst wichtig war, in die neu entstandenen Zusammenhänge zu setzen. „Wir bildeten uns nicht ein, als Kämpfer für die DDR-Kultur durch die Geschichte rennen zu müssen.“ Dem „Ost-West-Problem versuchten wir so schnell wie möglich zu entkommen und es auf die Basis der künstlerischen Ausdrucksformen zu reduzieren“. Vor allem die Klischees von staatstragender oder Dissidentenkunst, auf die Kunst aus der DDR in der Rezeption schnell reduziert wurde, sollte die nbk nicht bedienen. Auch im Rückblick auf den eigenen Weg erscheint Flügge nichts so falsch wie eine Stilisierung als Widerständler. „Das interessiert immer die Redakteure, wenn einer aus dem Osten kommt“, wartet er auf meine Fragen nach seinem Weggang von der Bildenden Kunst auf, als die Zeitschrift Mitte der 80er Jahre den Spielraum von Information und Kritik einbüßte.

Noch ein wenig zerknautschter als in der Gründungsphase der nbk wirkt der graubärtige Redakteur heute. Während unseres Gesprächs im engen Redaktionsbüro – im Prenzlauer Berg, wo sonst – steigt er mehrmals über Stapel von Büchern und Pressemappen hinweg, um telefonisch hinter „seinem“ Präsidenten herzujagen. Er kümmert sich um die Vertretung der Akademie der Künste im Beirat für die neu zu gründende Stiftung des Jüdischen Museums. „Besser als ein verlängertes Heimatmuseum wäre ein offener, leerer Ort, in den man keine fertige Geschichtsdefinition hineinpackt, sondern Erinnerung und Zukunft Raum zum Wachsen läßt“, skizziert er seine Überlegungen.

In die Akademie ist er als ein Vermittler gewählt worden, der die Falle der ideologischen Funktionalisierung zu umgehen gelernt hat. Die Institution war von Vereinigungsquerelen gebeutelt und versuchte einen Neuanfang. In solch schwierigen Situationen Gespräche wieder in Gang zu bringen reizt Flügge. Ein Reformpapier, zu dem er von Walter Jens aufgefordert wurde, war ausschlaggebend für die Wahl zum Vizepräsidenten neben dem Präsidenten Konrad.

In den Archiven und der 300jährigen Geschichte des Hauses sieht Flügge nicht nur historischen Ballast, sonden vor allem eine Chance, der Reduzierung von Kultur auf einen Wirtschafts- und Standortfaktor gegenzusteuern. Ihre bildungsbürgerliche Herkunft macht zusammen mit den Mitgliedern die enorme „Schwerkraft“ der Akademie aus, gegen die Flügge „Fliehkräfte“ organisieren will. Damit ist eine größere Öffnung gegenüber zeitgenössischen Experimenten und Alltagskultur ebenso gemeint, wie gegenüber Kooperationen mit anderen Häusern. „Natürlich ist das Haus sinnlos, es gibt keine Notwendigkeit dafür. Aber gerade daß sich die Gesellschaft diesen Luxus leistet, darin besteht eine enorme Verantwortung für das Haus, wieder in das kulturelle Bewußtsein einzudringen, seine Sinnlosigkeit lebendig zu machen.“

Viele Leser der neuen bildenden kunst kämen wohl nicht darauf, daß ihr Chef ein langjähriger Zille- Spezialist ist. Die Liebe zu dem „Zeichner der Großstadt“ hat ihm sein Vater vermacht. „Zille halte ich für einen eminenten Medienkünstler: Er hat sich als einer der ersten Künstler aus einer klassischen Attitüde heraus entschieden, die damals avanciertesten Medien seiner Zeit zu bedienen, nämlich die illustrierten Zeitschriften.“

Im Katalog der von Flügge erarbeiteten Retrospektive (ab 18.November in Berlin, Ephraimpalais) schreibt er über die Konzessionen, die Zille für die große Publizität machte. Diese Frage an das historische Werk kommt aus der Gegenwart einer Kunst, die sich der Medien gerne bedienen würde, ohne sich der in der Geschichte gezahlten Kosten bewußt zu sein.

Der Plan, die Strategien der Veröffentlichung des populären Zeichners einmal kritisch zu untersuchen, war „uralt“. Die Arbeit an Zilles Werkverzeichnis ermöglichte dem Ende der achtziger Jahre freischaffenden Kunsthistoriker „Westreisen“, die er ausführlich der zeitgenössischen Kunst widmete. „Da habe ich erst ein Gefühl dafür bekommen, wie Kunst auch irritieren kann. Im Osten hatte man sich viele Hoffnungen abgeschminkt, daß Kunst in gesellschaftliche Verhältnisse eingreifen könne. Es ging eher um Kulturerhalt in einer nicht besonders kulturfreundlich empfundenen Gesellschaft. Den Begriff der Irritation in der Kunst habe ich erst im Westen richtig begriffen.“

Heute, zehn Jahre später, schreiben Freitag und Flügge in einem Rückblick auf den diesjährigen Kunstbetrieb der Biennale und der documenta, daß für Irritation nur noch das Ausbleiben der Irritation sorge. Für jede Grenzüberschreitung ist schon ein Plätzchen bereitgestellt. Radikalität wird allein im Rückgriff auf die Kunst der sechziger Jahre sichtbar. Mit ihrer Zeitung aber geben sie die Suche nach einer „Restmenge sozialer Verbindlichkeit“ in der Kunst nicht auf, die über den Genuß des „Individualistischen und Hedonistischen“ hinausgeht.