Nicht schlimm, oder?

Familienbande VII: Die Triade Mutter – Vater – Kind durchdringt Generationen und Kulturkreise. Wie aber geht man mit der Elternfixierung bei Kindern von anderen Leuten um, wenn man selbst keine hat? Eine kurze Erzählung über die Kinderlosigkeit  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Es ist ein wichtiges Ritual unter aufgeklärten Menschen, die Eltern zu kritisieren. Natürlich nicht direkt, wie von der Psychoanalyse zu lernen war, sondern im Gespräch mit einem kompetenten Gegenüber. Es gilt, dem Schatten der Wünsche und Zuweisungen zu entkommen, die seit der Kindheit auf einen geworfen sind. Das ist eine von mehreren Strategien, dem Schicksal zu entgehen, das Leben der Eltern zu wiederholen.

Diese Erfahrung haben Th und Q gemacht, ein verheiratetes Paar in den Dreißigern. Allerdings haben sie dabei gemerkt, wie eng man sich an den Rahmen halten muß, den die Freudsche Intervention vorgibt: Th muß über seine Eltern Klage führen und Q über die ihren. Wehe, die Rollen werden vertauscht (es kommt vor). Dann findet Th plötzlich Q ungerecht, und Q findet, daß Th maßlos übertreibe.

Mutterliebe und symbolische Messer

Woran das liegt? Eine schlichte Antwort wäre, daß wir eben unsere Eltern „trotz allem“ lieben. Etwas anders ausgedrückt: „Ich“ ganz allein darf die Trennung vornehmen zwischen dem, was meine Eltern „bedeuten“ und dem, was „ich“ über sie hinaus „bedeuten“ möchte. Versucht Q diese Operation für Th zu vollziehen, fällt er zurück in die Identifikation; und andersherum. Es gilt sofort das Gesetz der Jugendbanden, wo Blut fließt, sobald Mama beleidigt wird, ob es sich um Türken handelt oder um Skins. Unsere symbolischen Messer funktionieren gleich.

Im Sommer waren Th und Q in einer ärmeren Region Südfrankreichs, wo sie Kontakte zu Leuten in einem Dorf unterhalten, das von 70er-Jahre-Aussteigern geprägt ist. Dieses Mal war die Szene sehr belebt, und sie waren mehr als einmal Gäste in einer Gruppe von mindestens einem Dutzend Leuten, Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern. So ließ sich Th hinreißen, eines der Kinder – einen Elfjährigen mit dem altertümlichen Namen Hippolyte – nach Berlin einzuladen.

Dabei hatte er allerdings vergessen, Q zu fragen, ob ihr die Einladung recht sei. Sie hat ihm nämlich zwei Dinge voraus, eine umfassende Kenntnis der französischen Sprache und Gesellschaft und einige traumatisierende Erfahrungen mit französischen Familien. Franzosen galten nämlich bei Qs Eltern als soziales und kulturelles Vorbild, weshalb eher willkürliche Kontakte zu dauerhaften Freundschaften mit wechselseitigen Einladungen ausgebaut wurden. Dabei war Q – als Kind – aufgefallen, daß die Kinder der verehrten Franzosen von der Bretagne bis zum Entre-deux-mers die Freiheit, mit der sie selbst aufwuchs, gar nicht teilten. Im Gegenteil. Sie standen unter einem quälenden Leistungsdruck betreffs Wissen und Benimm, der bei Achtjährigen zu vollgekackten Hosen und bei Zwölfjährigen zu schwer abgefressenen Fingernägeln führte. Beides wiederum war verboten und wurde auch bestraft.

Eines seiner Motive, Hippolyte einzuladen – mußte sich Th in den nächsten Wochen eingestehen –, war die simple Tatsache, daß ihm der Kontakt zu Kindern und Jugendlichen gegen seinen Willen und seine Intuition zu entgleiten droht. Zum Beispiel die beiden Mädchen der Nachbarn, inzwischen Erst- und Zweitklässler. In den ersten vier Monaten der Nachbarschaft, war ihm aufgefallen, hieß Q für die Kinder Q und Th „der Mann“. Dann wurde er Th. Keine Begegnung verlief ohne ein kleines Gespräch. Im Sommer schlug er einen Besuch im Freibad vor. Die Mädchen stimmten zu. Der Tag wurde mit der Mutter so geplant, daß der freie Nachmittag ihr nutzen möge. Als er vor der Tür stand, hatte B keine Lust und A wollte allein auch nicht mit.

Nicht schlimm, oder? Jedenfalls mußte er so tun. Denn der Erwachsene, der an die Stelle der Eltern tritt, muß die gleiche Art ungebrochener Zuneigung repräsentieren, die bürgerliche Kinder von ihren Eltern erwarten. Das Gezerre um Zuneigung und Anerkennung gehört zum libidinösen Theater des Proletariats. Es nimmt den Kindern das, was sie so anziehend macht, nämlich ihre Kindheit.

Seit jenem Sommertag denkt Th jedenfalls anders über eigene Kinder: Klar, wenn man sie erst einmal hat, gehen sie einem nicht mehr von der Pelle. Andererseits muß man sich um ihre gütige Zuwendung nicht grundsätzlich bemühen. Kinder, die in überschaubaren Verhältnissen aufwachsen, sehen offenbar ihre Eltern als erste Adresse und alle anderen Beziehungen sind darüber organisiert, wie die Eltern die anderen „definieren“ (geduldete Tante, freundlicher Hauswart, möglicher Baby- sitter etc.). Deshalb leuchtet es auch ein, daß die großen WGs und Kommunen vor zwanzig Jahren mit dem Rollenspiel von Ersatzvätern, zum Beispiel, und geliehenen Kindern Glückssträhnen am Wickel hatten: Denn das Geflecht der Erwachsenen war als Projekt definiert. Die Gemeinsamkeit lag nicht nur bei den Kindern. Oder andersherum: Die gewaltige Differenz zwischen denen, die Kinder haben, und denen, die keine haben, war für eine Weile aufgehoben. Natürlich deuten die Berufsrenegaten den kurzen Sommer der Utopie um in einen endlich überwundenen Irrtum.

Hippolyte, soviel wußten Th und Q, ist ein rehäugiger Junge von kurzem Wuchs und außergewöhnlicher Zurückhaltung, der mittlere von drei Brüdern; schöner und zerbrechlicher. Seine Mutter hat in der Nähe von Paris eine recht gut gehende kleine Manufaktur, in der auch Alain mitarbeitet, ihr Partner, der als Vaterfigur, aber nicht als Vater in die Familie hineingewachsen ist. Der tatsächliche Vater ist ein Physiker, der seine stabile Zeit des Jahres in der Universität und die instabile in der Psychiatrie verbringt.

Vom Zwang der Zuneigung

Hier war er also, Hippolyte, gerade zwölf geworden, der sich für fünf Tage an seine Gastgeber hängte, als wäre er mit einer Leine von fünfzig Zentimetern festgebunden. Seine mimetische Fixierung war faszinierend: Jeder Kochtopf, den Th bewegt hatte, wurde innerhalb von zehn Sekunden von Hippolyte berührt. Er sprach mit seinen Gastgebern, aber antwortete jedem Fremden höchstens mit einem Hauch auf den Lippen und einer Drehung des Kopfes. Im Schwimmbad machte er so ein Aufheben vom Ausziehen, daß er die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Es war unmöglich, ihm Vorlieben abzulauschen (Technikmuseum? Oper?), weil er offenbar in dem Irrtum gefangen war, seine Antworten würden als „richtig“ oder „falsch“ gewertet. In der Wohnung stand er herum wie ein Ölgötze, darauf wartend, Befehle zu empfangen. Wenn er zum Klo wollte, kündigte er es vorher an. Wenn er nicht weiter wußte, nagte er an seinen Fingernägeln, wo nicht mehr viel zu nagen war. Wen immer er traf: Alle waren gerührt.

Th war natürlich geneigt, in Hippolyte den Sohn eines psychisch Kranken zu sehen. Er verglich den Besuch mit dem von Mr. Bean, der alles falsch macht und dennoch eine glückliche Familie hinterläßt, von deren Zusammenhalt er nichts, aber auch gar nichts versteht. Q war da anderer Meinung. Sie sah Hippolyte als bedauernswertes Beispiel des französischen Bildungssystems, das Kinder trimmt und abhängig macht. Einerseits. Andererseits kehrte sie die Rolle der französischen Frauen heraus, die, anders als in Deutschland, ins Berufsleben integriert sind und gleichzeitig das Familienleben schmeißen. „Die Frauen können alles und machen alles – und dann haben sie weder Geduld noch Zeit, ihren verklemmten Jungen das Praktische beizubringen.“ So sind die französischen Männer, die nicht einmal Kaffee kochen können, in ihren Augen Opfer eines Matriarchats, das alles an sich gerissen hat – ohne die Grundsatzfragen zu stellen.

Th jedenfalls muß eingestehen, daß Frankreich für ein savoir vivre kein Leitbild ist, von mittelgroßen Gelagen an warmen Sommerabenden einmal abgesehen. Die Besten quälen sich in die Eliten (trauriges Zeugnis: die Foucault-Biographie von Didier Eribon), während die anderen in Aufbewahrungsanstalten über alle Maßen diszipliniert werden; diszipliniert und handlungsunfähig zugleich. Hippolyte schwimmt mit dem Kopf über Wasser und gespreizten Fingern.

Die flächendeckenden Vor- und Ganztagsschulen gehörten allerdings auch zum Modell der „realen“ sozialistischen Gesellschaften, deren Indoktrination bis weit in die Familien reichte. Schweden mag im Vergleich ein etwas glücklicheres Beispiel sein und steht doch genauso für den regelmäßigen und zeitweise auch unhinterfragten rigiden Übergriff des Staates auf die private Sphäre, bis zur biologischen Integrität (von Behinderten).

Das westdeutsche Experiment ist weder geglückt noch gescheitert. Das Mißtrauen gegenüber öffentlichen Institutionen wird nicht mit deren Reform, sondern mit zunehmender Kokonisierung der Familie beantwortet. Dabei sind, gar nicht mehr so selten, die Väter die guten Mütter, vor denen man sich durchaus fürchten darf.

Natürlich bedeutet, selbst Kinder zu haben, die größtmögliche Annäherung an die Biographien der Eltern, deren Kind man ist. Aber eine Kritik der Familie, die auf Kinderlosigkeit hinausläuft, hat mit Sicherheit keine Erben. Das wäre doch bedauerlich: Die sogenannten türkischen Mitbürger fahren unter lautem Hupen ihre Bräute ins Kindbett; und die Emanzipation stirbt aus.