Die Lebenden graben die Toten wieder aus

Während Guatemalas offizielle Wahrheitskommission nur langsam vorankommt, suchen Angehörige die Opfer selbst  ■ Von Toni Keppeler

Santa Cruz del Quiché liegt im Nebel. Es ist kalt, keine zehn Grad. Die geduckten Lehmhäuschen in den Gassen des Provinzstädtchens im Hochland von Guatemala sind so grau wie der Himmel.

Nur eines ist frisch gestrichen, in leuchtendem Hellblau. „Comisión de Esclarecimiento Histórico“ steht an der Hauswand: „Kommission zur historischen Aufklärung“. Eine Außenstelle dessen, was landläufig „Wahrheitskommission“ genannt wird. In zehn Monaten soll diese Arbeitsgruppe die Greuel von 36 Jahren Bürgerkrieg aufarbeiten.

In der Provinz Quiché gibt es besonders viel aufzuarbeiten. Mehr als neunzig Prozent der Bewohner sind Indigenas. Armee und Todesschwadrone haben hier Massaker gleich dutzendweise angerichtet. Elf Rechercheure der Kommission suchen nach Zeugen des Gemetzels. Der Chilene Aucan Huilcaman ist einer von ihnen. „Ich kann nichts sagen, was die Untersuchungen stören könnte. Das ist eine sehr heikle Angelegenheit.“

Huilcaman mag keine Fragen. Nur ein paar nichtssagende Floskeln läßt er sich abringen. Ja, man habe viel Arbeit. Nein, Exhumierungen von Massengräbern habe es hier in der Gegend noch nicht gegeben. In zwei Stunden kommt niemand vorbei, der eine Menschenrechtsverletzung anzeigen will.

Zwanzig Kilometer weiter, in Chichicastenango. Der Ort ist bei Touristen wegen seines großen Indigena-Marktes beliebt. Am Dorfrand, in einer katholischen Schule, lebt der Marianermönch Santiago Otero. Seit mehr als zehn Jahren erforscht er die Geschichte des Quiché. „Hier in der Gegend gibt es fast wöchentlich Exhumierungen“, widerspricht er dem Rechercheur der Wahrheitskommission. „Sie sind nicht legal, aber ich würde sie auch nicht illegal nennen.“

Wenn die Überlebenden in Erfahrung bringen, wo ihre Angehörigen verscharrt worden sind, graben sie die Überreste einfach aus. „Warum sollen sie warten, bis ein Richter sich bequemt, eine Exhumierung anzuordnen? Die Leute haben ein Recht darauf, ihren Angehörigen ein ordentliches Begräbnis zukommen zu lassen.“

Daß dabei Beweise zerstört werden, ist Otero egal. „Man kennt die Geschichten doch schon. Man kennt die Täter. Und die Wahrheitskommission macht keinerlei Hoffnung, daß die Hinterbliebenen irgendein Recht bekommen könnten.“

Einen Großteil der Toten in dieser Gegend lastet der Mönch den sogenannten „Patrouillen zur zivilen Selbstverteidigung“ an. Dieses dichtgeknüpfte Netz aus Spitzeln und Todesschwadronen wurde kurz vor Kriegsende einfach aufgelöst. Niemand wurde bestraft.

Mitte der achtziger Jahre waren bis zu 1,5 Millionen Guatemalteken in diesen Patrouillen organisiert – freiwillig oder unter Zwang. Dazu kommen rund 50.000 Soldaten. Zusammen sind das fast fünfzehn Prozent der Bevölkerung. Kann man fünfzehn Prozent der Bevölkerung ins Gefängnis stecken?

„Wenn sie deinen Mann und deine Kinder getötet haben, reicht es nicht, daß man weiß, wer sie ermordet hat. Es tut weh, wenn man sieht, daß diese Leute heute noch immer gut leben.“ Eugenia Pu López kommt schnell in Rage, wenn sie an die Wahrheitskommission denkt. Wie die meisten Frauen im Quiché spricht sie nur ein paar Brocken Spanisch. Wie die meisten Frauen trägt sie die Tracht der Quiché-Indigenas: leuchtend rote, mit Goldfäden durchwirkte Brokatstoffe und ein Gewirr von Halsketten aus Goldimitat. Ihr Alter ist schwer zu schätzen. Sie ist klein und zierlich, die dunklen Augen sind strahlend jung. In ihren blauschwarzen Zöpfen findet sich kein graues Haar.

Aber ihr Gesicht hat zu viele Falten. Eugenia Pu López ist Mitglied des Organisationskomitees von Conavigua, der „Vereinigung der Witwen Guatemalas“. Allein im Quiché sind 6.000 Frauen organisiert.

Eugenia Pu López kennt viele Geschichten und versteht, warum die Opfer lieber Distanz halten zur Wahrheitskommission. Seit formaler Frieden herrscht in Guatemala, sagt sie, „hat die Gewalt nur ihr Gesicht verändert. Sie töten heute nicht mehr so schnell.“ Als im Mai dieses Jahres in San Pedro ein Massengrab exhumiert wurde, weiß Pu López, „zogen in der Nacht die Männer eines Großgrundbesitzers durchs Dorf. Sie haben nur in die Luft geschossen.“ Aber die Einwohner verstanden.

Conavigua unterstützt die Arbeit der Wahrheitskommission. Aber wie soll man die Leute von San Pedro dazu ermuntern, eine Aussage zu machen?

Auch in Chacalte werden Massengräber ausgehoben. Die Ansammlung aus provisorisch zusammengezimmerten Hütten liegt rund hundert Kilometer nordwestlich von Santa Cruz del Quiché in einem Pinienwald. Das Dorf, das hier einmal stand, wurde im Juni 1982 zerstört. 120 Einwohner wurden getötet.

Doch Chacalte ist keines der 440 Dörfer, die von der guatemaltekischen Armee ausradiert wurden. Hier war es die Guerilla der URNG, die ein Massaker anrichtete. Die Gegend war im Krieg eine Hochburg der Guerilla. „Die Armee hat immer wieder versucht, ein Netz aus Spitzeln aufzubauen“, erzählt Padre Rosalino, der seit 1983 die Überlebenden des Massakers als katholischer Priester betreut. In Chacalte war es den Militärs gelungen, ein paar Einwohner auf ihre Seite zu ziehen. Das Massaker der URNG, sagt der Geistliche, „war eine exemplarische Bestrafungsaktion, die anderen Dörfern als Warnung dienen sollte“.

URNG-Sprecher Arnoldo Noriega weist solche Vorwürfe zurück. Die Aufständischen, sagt er, seien in Chacalte in ein Feuergefecht verwickelt worden. Die gerichtsmedizinischen Beweise, die jetzt ans Tageslicht kommen, erzählen eine andere Geschichte. „Einige wurden erschossen, andere mit der Machete erschlagen, und wieder andere wurden verbrannt“, sagt die Anthropologin Mariana Valdizon. „Es sind Männer darunter, Frauen und Kinder.“

Guatemala-Stadt. Ein modernes Geschäftsviertel. Das Columbus-Center ist das neueste und höchste Bürogebäude. Zartblau verglaste Außenaufzüge bringen die Besucher hinauf in den 13. Stock. Von dort hat man eine herrliche Aussicht über den Flughafen hinweg hinüber zum Hochland. Hier ist das Hauptquartier der Wahrheitskommission. Neben dem Metalldetektor am Eingang sitzt ein Indigena in der Uniform eines privaten Sicherheitsdienstes. Am Gürtel trägt er einen schweren Revolver.

„Wir haben Hinweise darauf, daß das Massaker in Chacalte nicht das einzige war, das die Guerilla angerichtet hat“, sagt Christian Tomuschat. „Wir müssen prüfen, ob dies Teil der Strategie der URNG war.“

Tomuschat, Völkerrechtsprofessor in Berlin und in den 80er Jahren UNO-Menschenrechtsbeauftragter für Guatemala, wurde von Regierung und URNG als Vorsitzender der Wahrheitskommission bestellt. Seine Zwischenbilanz nach 2.000 erfaßten Fällen: Die große Mehrheit der Menschenrechtsverletzungen muß Regierung und Armee angelastet werden.

In 36 Jahren Krieg gab es mindestens 150.000 Tote. Mindestens 40.000 Menschen sind spurlos verschwunden. Tomuschat weiß noch lange nicht alles. Armee und Guerilla blockieren beide seine Arbeit. Seit Wochen verlangt er Einblick in ihre Archive. Seit Wochen wartet er auf eine Antwort – „ein klarer Bruch des Friedensabkommens,“ klagt er.

Im Mai kommenden Jahres will Tomuschat seinen Abschlußbericht vorlegen. Er will damit „zu einer Gewissenserforschung“ der Guatemalteken beitragen, eine Art nationaler Trauerarbeit leisten. „Entschädigungen können wir nicht versprechen. In unserem Bericht dürfen wir nicht einmal Namen nennen. Wir können nur rechtlich unverbindliche Empfehlungen abgeben.“

Zurück im Quiché. Das Dorf Lemoa liegt an der Straße zwischen Santa Cruz und Chichicastenango. Noch vor dem ersten Haus biegt rechts ein Erdweg auf die Weiden ab. Ein Betrunkener kann sich auf dem vom Nieselregen glitschigen Pfad kaum auf den Beinen halten. Er bettelt um ein bißchen Kleingeld.

Hinter den Hecken am Straßenrand stehen ungeordnet und schief ein paar Kreuze aus Holz und Metall. In der Mitte ein nackter Betonsockel mit einer Inschrift: „In diesen Gräbern liegen die Reste von 26 Märtyrern, die in den Jahren 1981 und 1982 massakriert und in geheimen Friedhöfen verscharrt wurden. Sie haben ihr Leben für den Frieden gegeben. Ihr Blut ist Dünger auf unsere Erde.“

Die Tafel ist vom Regen verwaschen und nur schwer zu entziffern. Die Erinnerung an die Toten wurde aufgeschrieben. Sie verblaßt.