Spurensuche

■ Lieber offenes Blitzlicht als Gestank: Das erste biographische Lexikon zur Exilfotografie schließt endlich eine Leerstelle der Exilforschung

Erich Kastan fotografierte alles, was in irgendeiner Weise mit dem jüdischen Gemeindeleben in Hamburg zusammenhing. Von ihm stammen fast alle Fotos in der „Festschrift zum 120jährigen Bestehen des Israelitischen Tempels in Hamburg“, die 1937 erschien. Im gleichen Jahr fotografierte Kastan die Zwangsaufhebung eines bedeutenden jüdischen Friedhofs in Hamburg.

Kastans Fotos dokumentieren das künstlerische Schaffen des „Jüdischen Kulturbundes“ und seiner Akteure. So vielfältig seine überlieferten und erhaltenen Fotoarbeiten sind, sowenig ist über ihn selbst bekannt. Der 1898 geborene Kastan emigrierte vermutlich 1938 in die USA. Ob er seinen Beruf im Exil fortführen konnte, ist nicht bekannt.

Auch der Hamburger Architekt Fritz Block, wie Kastan jüdischer Herkunft, war im November 1938 zur Emigration gezwungen. Im amerikanischen Exil machte er aus seinem Hobby einen neuen Beruf. Er baute die Firma „Dr. Block Color Production“ auf, die Farbdiaserien aus den Bereichen Kunst, Kultur und Architektur landesweit an Bildungseinrichtungen verschickte. Fritz Block starb 1955 in Los Angeles.

Erich Kastan und Fritz Block bleiben in dem jüngst erschienenen, enzyklopädisch angelegten Buch „Und sie haben Deutschland verlassen ... müssen – Fotografen und ihre Bilder 1928–1997“, das als Katalog die gleichnamige Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn begleitet, unerwähnt. Diese Auslassung kann aber kein Vorwurf sein. Denn was die beiden Autoren, Klaus Honnef und Frank Weyers, auf mehr als 500 Seiten zusammentragen, ist bei der selbst eingestandenen Unvollständigkeit nichts weniger als ein erstes vorzügliches biographisches Lexikon zur deutschen (und österreichischen) Exilfotografie.

Völlig zu Recht verweisen Honnef und Weyers darauf, daß von der etablierten, wenn auch nicht im Rampenlicht stehenden Exilforschung der Bereich der Fotografie vernachlässigt wurde. Und tatsächlich sind in den 14 bisher erschienenen Jahrbüchern der „Gesellschaft für Exilforschung“ alle möglichen Aspekte des Exils, die Biographien von vertriebenen Schriftstellern und Publizisten, von Politikern und Künstlern, von Wissenschaftlern und Musikern berücksichtigt worden. Doch kein Aufsatz widmet sich bislang den verdrängten und geflohenen Fotografen. Honnef und Weyers belassen es in ihrem alphabetisch angelegten Buch über insgesamt 171 Fotografinnen und Fotografen nicht bei billigem Name-dropping. Sie präsentieren eben nicht nur die berühmten oder schon bekannten Namen wie Ilse Bing, Robert Capa, Alfred Eisenstaedt, Andreas Feininger, Gisèle Freund, John Heartfield, André Kertész, László Moholy-Nagy, Erich Salomon, Eva Siao, Herbert Sonnenfeld, Roman Vishniac u.a.

Sie verweisen auf den in München geborenen und in New York lebenden Erich Hartmann, der 1995 seine beeindruckende wie bedrückende Dokumentation „Stumme Zeugen. Photographien aus Konzentrationslagern“ publizierte. Sie erinnern an die 1910 in Stuttgart geborene und 1937 während des Spanischen Bürgerkriegs auf tragische Weise ums Leben gekommene, erst 1994 durch eine bemerkenswerte Biographie gewürdigte Gerta Taro hin. Auch der in Berlin als Frank Wolff geborene Francis Wolff, der nicht nur als Geschäftsführer, sondern vor allem als Fotograf den legendären Ruf des Jazz- Labels „Blue Note“ begründete, wird von ihnen gewürdigt.

Unter dem Buchstaben A begegnet dem Leser Maria Austria, 1915 in Karlsbad als Marie Karoline Oestreicher geboren. 1937 emigrierte sie nach Amsterdam. Gegen Kriegsende arbeitete sie für die holländische Widerstandsbewegung. Sie gehörte der Gruppe „Particam“ an, stellte Paßbilder für gefälschte Personalpapiere her. Nach 1945 machte sie sich einen Namen als Porträtfotografin.

Auch der 1916 in Berlin geborene Fritz Kahlenberg emigrierte in die Niederlande. Nach der Okkupation Hollands organisierte er die Widerstandsgruppe „De ondergedoken camera“. Deren Fotografen dokumentieren die deutsche Besetzung der Niederlande. Fritz Kahlenberg starb 1996 in New York.

Marion Palfi wurde 1907 in Berlin geboren. Zuerst ebenfalls in die Niederlande, emigrierte sie 1940 schließlich in die USA. Sie bezeichnete sich selbst als „social research photographer“, hielt durch ihre Aufnahmen soziale Ungerechtigkeit, Vorurteile und Rassismus gegen Schwarze fest. Bedrückend und schauerlich zugleich ihre Fotoserie aus Irvington, Georgia, wo sie 1949 einen Fall von Lynchjustiz dadurch dokumentiert, indem sie die Porträts der weißen Täter dem Porträt des schwarzen Opfers gegenüberstellt. 1977 starb sie in Los Angeles.

Die Geschichte der Fotografie Israels bezeichnet Klaus Honnef in einer Fußnote als „terra incognita“. Um so erstaunlicher sind die zahlreichen Beispiele deutsch- jüdischer Fotografen, die nach Palästina respektive Israel emigrierten. Stellvertretend seien Micha Bar-Am, Werner Braun, Fritz Cohn, Alfons Himmelreich, Rachel Hirsch, Peter Merom, Hans Chaim Pinn, Jakob Rosner und Walter Zadek genannt.

Alle hier erwähnten Fotografinnen und Fotografen, die aus politischen und/oder rasseideologischen Gründen Deutschland haben verlassen müssen, eint vielleicht dasZitat des Fotografen Tim Gidal (1909–1996): „Im Mai 1933 verließ ich Deutschland, lieber offenes Blitzlicht als Gestank.“

Auch wenn Klaus Honnef und Frank Weyers eingestehen müssen, daß eklatante Wissenslücken bestehen bleiben, so haben sie mit ihrem Arbeitsprojekt „Fotografie im Exil“ einen ersten umfassenden Versuch der Spurensuche und -bewahrung unternommen. Ihr faszinierendes Katalogbuch empfiehlt sich allen an Fotografie und Exilforschung interessierten Lesern. Wilfried Weinke

Klaus Honnef, Frank Weyers: „Und sie haben Deutschland verlassen ... müssen. Fotografen und ihre Bilder 1928–1997.“ Proag- Verlag, Köln 1997, 528 S., 603 Abb., 128 DM