Durch die Galaxis

Die Sprache ist ein langer, breiter Strom: Paulus Böhmer schreibt die längsten Gedichte im Lande, pulsierende Texte über eine Innenwelt, die nicht idyllisch ist  ■ Von Martin Pesch

In den Gedichten von Paulus Böhmer bewegt sich alles. Seine Gedichte sind in Bewegung, sie sind Bewegung. Um dies in ihrer gedruckten Fassung optisch deutlich zu machen, hat sich der 1939 geborene und in Frankfurt/ Main lebende Böhmer schon vor langer Zeit entschlossen, seine Gedichte in zentriertem Satz zu präsentieren. Inzwischen, erzählt er, würden auch schon erste Entwürfe so notiert. Was einst einer formalen Verlegenheit entsprang, hat sich zur Schreib-, zur Denkform entwickelt. Das mußte so sein, denn Böhmers Texte pulsieren, öffnen und schließen sich, sind in unentwegtem Fluß, dessen zentrale Strömung alles mitreißt und an dessen Rändern ausfranst, einreißt, hängen bleibt, was eben noch im sicheren Hafen des Verstandenseins angelangt schien.

Blenden wir uns für einen Moment in Böhmers neues Gedicht „Eben noch, Vor langer Zeit, Jetzt“ ein: „(...) Fließrichtungen kehren sich um, / Blut läuft leise in beiden Richtungen durch die Gewebe, / Schaltkreise leuchten, Systeme schalten sich zu, / pulsieren, vibrieren, springen, wachsen, ver- / wandeln sich, schalten sich / ab, nervös, un- / berechenbar, non- kausal, ein / nasser Atemzug, Wispern, / Pollenflug, Rascheln einer Maus, aus- / gekämmtes Haar, das der Wind vor sich hertreibt, längst / gerodetes Gebüsch voll Gezitter & Rufen, über die Erde / ziehen Schwärme der Asteroiden hin- / weg, ansteigend, fallend, wunderbar / (...)“

Obwohl Böhmer dem Begriff der „zweiten Natur“ skeptisch gegenübersteht, suggerieren seine Texte nicht die Abbildbarkeit natürlicher, organischer Abläufe, auch Leben genannt. Das, was bei Böhmer wie „formloses“ Schreiben aussieht, steckt in einem fast manierierten Formkorsett. Seine Texte sind deshalb immer auch Kompromiß zwischen sprachlicher Artikulation und dem, was ihr entgeht. Der Autor schwankt dabei zwischen der Hingabe an einen Assoziationsfluß und der Verzweiflung darüber, nicht in jedem Moment die Präsenz der Welt fassen zu können. „Ich muß“, sagt er, „vom Feuerzeug auf diesem Tisch innerhalb der nächsten drei Zeilen zum Ende der Galaxis kommen.“ In dem Gedicht „Ein Strauchdieb, ein alter Freier“ aus dem 1996 erschienenen Band „Säugerleid“ klingt das so: „(...) ...in den Matratzen die Abdrücke fort- / geschaffter Toter. Wassergläser, Grüße / aus Bad Orb, die Sollbruchstellen der Nelken / weiße Gesichter, eingesunken in Kissen, an- / gekommen ans Ende der Welt.“

Böhmer hat die gesellschaftlichen und kulturellen Aufbrüche und Rückschläge der 50er und 60er Jahre bewußt erlebt. Er hat in Berlin gelebt („Betonung auf gelebt“, wie er sagt) und nennt G.B. Fuchs und V.O. Stomps als wichtige frühe Wegweiser in die Literatur. Walter Höllerers Verdienste um den Import des amerikanischen Langgedichts hat er als Anstoß empfunden. Zurück in der Provinz, wo er eine Kaufmannslehre absolvierte, entstand das handwerkliche Rüstzeug, die eigenen Erfahrungen mit avanciertem Formbewußtsein auszudrücken.

Eine Zeitlang stellte Böhmer dies in den Dienst der Werbung und sprang rechtzeitig ab, bevor das, was ihm Sprachstrom war, zum Rinnsal wurde. Seine Gedichtbände erschienen in kleinen Verlagen, manchmal hochgelobt von Kollegen und immer ignoriert vom Literaturbetrieb.

Nähe zum Rock 'n' Roll und zum Blues

Paulus Böhmer schreibt die längsten der derzeit im deutschen Sprachraum verfaßten Gedichte. Manchmal über 40 und mehr Seiten schieben sich Endzeitszenerien, Aufzählungen von Namen, sprachliche Assoziationsketten ineinander, bis die letzte Spur eines benennbaren Sujets des jeweiligen Gedichtes verwischt ist. Immer wieder auftauchende Bezüge zum Rock 'n' Roll, zum Blues und anderen popkulturellen Aspekten („Versace, Gucci, Dolce & Gabbana – es gibt kaum schönere Worte“) machen Böhmers Nähe zu den Errungenschaften anderer, ebenfalls in Aufbruchzeiten geprägten Langpoeten sichtbar.

Robert Creeley und Allen Ginsberg etwa haben gezeigt, daß das lange Gedicht die Möglichkeit birgt, das menschliche Bewußtsein in seiner neu erkannten Charakteristik des Flußhaften auszudrücken. Durch die schiere Länge seiner Gedichte gewinnt Böhmer einen Freiraum, in dem die Grenzen der Sprache zur Disposition stehen. Die im „normallangen“ Gedicht kristallisierte Erfahrung verliert ihre Bezogenheit auf eine subjektive Autorschaft und gewinnt eine Eigenmächtigkeit, die sprachlich ein „unruhiges Mosaik / tektonischer Flächen“ bildet, wie es in einem älteren Gedicht einmal heißt. Äußeres Zeichen davon ist das Fehlen eines lyrischen Ichs. Dennoch: Böhmer läßt es nicht bloß fließen. Der Autor, der jahrelang auch gemalt hat, sagt dazu: „Im Gegensatz zum Malen, wo die Grundierung eines Bildes schon ein befriedigendes sinnliches Tun sein kann, ist Schreiben erstens Arbeit, zweitens Arbeit und drittens Arbeit.“

Erinnerungen und Weltgedächtnis

Zu dieser Arbeit gehört in Böhmers Gedichten die des Erinnerns. Der diesbezüglich zentrale Text Böhmers ist das über Jahre entstandene, inzwischen auf drei Teile angewachsene und 120 Seiten des Bandes „Säugerleid“ einnehmende Gedicht „Kaddish“. Ein Kaddisch ist, jüdischer Tradition zufolge, den Verstorbenen gewidmet. Wie nirgends sonst vermischen sich in diesem Gedicht persönlich scheinende Erinnerungen mit einem diffusen Weltgedächtnis. Dem Titel entsprechend nimmt Böhmer immer wieder jüdische Motive auf: „Der in den Geweiden sang, Vater der Klezmorim, / war uns das Denken wie / das Boom-Chicka-Boom der Gitarre. // Dahin zieht das Denken mit geschmolzenem Gebirg / und auf der Oberfläche schwappt / ein Ozean aus flüssigem Gestein, verstaihn?“ Das Erinnern ist auch Anstoß von Böhmers neuem Text „Die Ohm“. An dem kleinen Fluß im Oberhessischen ist er aufgewachsen. Begriffe wie Heimat und Kindheit werden hier zu einem Schlund, in dem das erinnernde Subjekt versinkt: „(...) die Ohm / ist das Knacken des Brustbeins, das klett- / verschlußartige Reißen der Kopfhaut, / das, was du sein wirst, was / wir schon sind, / ist das Knospen der Hirnorgane, das weiße / Rauschen, der stecknadelgroße / Materieknopf, zu dem alles zurück- / rast (...)“ Auch wenn in dieses fulminante Gedicht die schöne Naomi einen Strahl ihres aus sprachlichem Zufall entstandenen Glanzes wirft, trifft auch auf „Die Ohm“ zu, was Böhmer generell zu seinen Gedichten sagt: „Es sind Texte über eine Innenwelt, die keine idyllische ist.“

Paulus Böhmer: „Die Ohm“. Verlag Peter Engstler, Ostheim/Rhön 1997, 44 Seiten, 10 DM

Paulus Böhmer: „Säugerleid. Kaddish & andere Gedichte“. Axel Dielmann Verlag, Frankfurt/M. 1996, 187 Seiten, 38 DM

Paulus Böhmer: „Eben noch, Vor langer Zeit, Jetzt“. Mit einem Essay von Klaus Reichert. Axel Dielmann Verlag, Frankfurt/M. 1997, 24 Seiten, 14 DM

Eine Theateradaption von „Kaddish“ (Regie: Stefan Maurer) hat morgen abend im Künstlerhaus Moussonturm, Frankfurt/M., Premiere. Weitere Aufführungen: 14.–16.11.