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Politische Konfrontation vor Gericht

■ Die türkische Staatsanwaltschaft begründet vor dem Verfassungsgericht den Verbotsantrag gegen die islamistische Partei

Istanbul (taz) – Der Ankläger im Verbotsprozeß gegen die islamistische Wohlfahrtspartei, Oberstaatsanwalt Vural Savas, hatte gestern seinen großen Auftritt vor dem türkischen Verfassungsgericht. Es sei seine Pflicht, die „laizistische, türkische Republik zu schützen“, erklärte Savas vor Beginn seiner mündlichen Einlassungen. Aus diesem Grund habe er den Verbotsantrag gegen die islamistische Refah-Partei gestellt. Der Vorsitzende der Partei, der ehemalige Ministerpräsident Necmettin Erbakan, trachte danach, das Land und die Bevölkerung zu spalten und versuche, die säkular verfaßte Türkei in einen theokratischen Staat umzuformen.

Nach dem Oberstaatsanwalt wollte am Nachmittag Necmettin Erbakan selbst mit seiner Verteidigungsrede antreten. Ankläger und Verteidiger werden vor Gericht einzeln gehört.

Seit Ende Mai – damals war Erbakan noch Ministerpräsident – schwebt über der Partei die Drohung, durch das Verfassungsgericht verboten zu werden. Die Anträge der Wohlfahrtspartei auf zeitliche Aufschübe, um die schriftliche und mündliche Verteidigung vorzubereiten, wurden abgelehnt, und die Art der Prozeßführung unter Vorsitz des kemalistischen Verfassungsgerichtspräsidenten nährt die Vermutung, daß wahrscheinlich noch in diesem Jahr ein Urteil zu erwarten ist.

Ein Verbot der Partei, die die stärkste Fraktion im türkischen Parlament stellt und eigenen Angaben zufolge über vier Millionen Mitglieder zählt, brächte das politische Betätigungsverbot für die Parteispitze und Abgeordnete. Nach Aufhebung der Immunität von Abgeordneten würde eine Strafprozeßlawine die islamistischen Politiker zum Verstummen bringen. Allein gegen den Parteivorsitzenden Erbakan sind derzeit sechs Anträge der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Immunität anhängig.

„Aufstachelung des Volkes zu Rache und Feindseligkeiten unter Berücksichtung von Religions- und Konfessionszugehörigkeit“ werfen die Staatsanwälte Erbakan vor. Wegen dieser Vorwürfe sitzt der islamistische Bürgermeister der Stadt Sincan, verurteilt zu vier Jahren und sieben Monaten, im Gefängnis. Auch der Bürgermeister von Kayseri muß ins Gefängnis, wenn das Berufungsgericht eine einjährige Gefängnistrafe bestätigt, die im vergangenen Monat verhängt wurde.

Die Strafen werden ausnahmslos wegen Reden und Äußerungen der Politiker ausgesprochen. Zuletzt wurde eine alte Videoaufnahme einer Rede Erbakans vor Parteifreunden hervorgekramt. Darin fordert Erbakan auf dem islamistischen Fernsehsender „Kanal 7“ die Bürgermeister auf, Gelder zu spenden, weil „das Fernsehen für den heiligen Krieg unabdingbar“ sei. Erbakan behauptet, die Bänder seien gefälscht, doch Oberstaatsanwalt Vural, der beim staatlichen Fernsehsender TRT attestieren ließ, daß Aufnahmen und Ton echt seien, hat die Videobänder längst als zusätzliches Beweisstück im Verbotsantrag gegen die Partei beim Verfassungsgericht eingereicht.

Erbakan ist derzeit bemüht, der Partei ein gemäßigtes Image zu verpassen und hat die Radikalen in der Partei zur Zurückhaltung angehalten. Abgeordnete, deren Äußerungen das Belastungsmaterial für den Verbotsantrag stellen, traten nach Bekanntwerden des Verbotsantrages aus der Partei aus.

In seiner Verteidigung, die unter tatkräftiger Hilfe westlicher Verfassungsrechtler – so Juristen aus Göttingen und Straßburg – zustandekam, verweist Erbakan auf die in einem Rechtsstaat garantierte Organisationsfreiheit und auf internationale Menschenrechtskonventionen, die die Türkei unterzeichnet hat. Die Globalisierung – so Erbakan – habe dazu geführt, daß die Menschheit minimale Rechtsnormen teile. Ein Verbot seiner Partei schließe dagegen die Türkei von der zivilisierten Welt aus.

Der türkische Staat auf der einen, der in Form der Wohlfahrtspartei organisierte politische Islam auf der anderen Seite treten als die Konfliktparteien in dem Verbotsverfahren auf – und jedermann in der Türkei ist klar, daß es sich abseits der juristischen Fragen um eine politische Konfrontation handelt. Ohne den massiven Druck der Militärs, die faktisch Erbakan als Ministerpräsident stürzten, wäre dieser Prozeß undenkbar.

Unter formalrechtlichen Aspekten – auf Grundlage der nach dem Militärputsch 1980 oktroyierten Verfassung von 1982 und dem Parteiengesetz – ist ein Verbot möglich. Letztlich entscheiden die Verfassungsrichter darüber, ob es opportun ist, die stärkste politische Partei im Land zu verbieten, oder ob die Schläge, die der Partei im Zuge des Verbotsantrags schon versetzt wurden, als ausreichend erscheinen. Ömer Erzeren

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