Freßmeile mit Dach und Gleisanschluß

Trotz der Proteste aus der Bevölkerung wurde der Leipziger Hauptbahnhof zum Erlebnis-Shopping-Center ausgebaut. Ein Abschreibungsprojekt für 500 Millionen Mark. Innenstadtgeschäfte bangen um die Existenz  ■ Von Nana Brink

Hurra – so schön ist unser Bahnhof!“ Ganzseitig künden heute die Gazetten in Leipzig von dem bevorstehenden Ereignis. Wieder ein „Superprojekt“ für die „Boomtown des Ostens“ und ihren schon ritualisierten Größenwahn.

Nach der Eröffnung der 1,3 Milliarden Mark teuren Leipziger Messe 1996 vor den Toren der Stadt, zelebrieren Bundeskanzler Kohl und Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) mit der Wirtschaftsprominenz von Deutscher Bank bis Otto-Versand heute die Einweihung einer „blühenden Landschaft“. Für 500 Millionen Mark wurde Europas größter Kopfbahnhof zu einem „Einkaufs-, Dienstleistungs- und Reisezentrum“ umgebaut. Der 1915 erbaute Bahnhof, einst als „Kathedrale des Fortschritts“ gefeiert, soll Leipzig, so Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube (SPD) den „Anschluß an den Aufschwung“ sichern. Die wütenden Proteste der Leipziger, die vor zwei Jahren das Projekt fraglich erschienen ließen, sind verstummt.

In den Jahren nach der Wende geriet das wilhelminische Relikt, zu DDR-Zeiten den Messestädter ein letztes Symbol für ihre verlorengegangene Weltläufigkeit, zum Sanierungsproblem für die Stadt wie auch für die Bahn AG. Was tun mit dem Sandsteinriesen, den nur noch 75.000 Menschen täglich frequentierten statt früher 200.000 und dessen denkmalgeschützten Fassaden und Dachkonstruktionen verfielen?

Die Eingriffe in den zunehmend verwaisten Reisedom waren gewaltig. Der 270 Meter lange Querbahnsteig am Kopfende des Bahnhofs wurde in gesamter Länge aufgerissen. Wo früher die Tauben unter dem gläsernen Jugendstildach kreisten, darf sich der Reisende in drei Etagen auf ein „hypermodernes Erlebnis-Shopping“ gefaßt machen. Auf 30.000 Quadratmetern verquickt sich nach Angaben der Betreiber Tradition mit Moderne. Die historischen Wartesäle, frisch poliert, laden ein zur „Reisepause mit Familien- und Business-Ecke“ und die rund 130 Geschäfte bieten Konsum total. Von der französischen Freß-theke über den Drogeriegroßhandel bis zum Designerladen ist alles vorhanden. Künftig blickt man durch riesige Portalschaufenster in der Querhalle auf die unten liegenden Gleise, auf denen die Züge wie zu Dekorationszwecken abgestellt erscheinen.

„Der Hauptbahnhof bleibt ein Hauptbahnhof“, versichert derweil die Deutsche Bahn, die täglich bis zu 180.000 „Gäste“ erwartet – die wenigsten allerdings als Reisende. Für „Europas schönsten Bahnhof“, der als Pilotprojekt für die Umgestaltung der Haltepunkte zu „Shopping- und Reisezentren“ in München, Hannover und Köln gilt, gab die Deutsche Bahn zum erstenmal die Sanierung und Vermarktung in private Hände. Bislang kostete die Leipziger „Oase“ rund 500 Millionen Mark. Über 400 Millionen Mark bringen ein Abschreibungsfonds einer Tochter der Deutschen Bank auf und die Hamburger ECE-Gruppe, die zum Otto-Versand-Konzern gehört.

Ob sich allerdings der Einzelhandel in der Leipziger Innenstadt gegen das neue Bahnhofskaufhaus behaupten kann, zweifelt Rita Sparschuh von der Industrie- und Handelskammer an. Die Geschäftsführerin im Bereich Handel und Dienstleistung fürchtet einen Rückschlag für den kleinen Geschäfte, „die sie zur Aufgabe zwingen könnte“. Während die innerstädtischen Passagen in „Boomtown“ mit teuren Designer- und Juweliergeschäften prunken und, ausgestattet mit „Durchhaltekapital“, auf die reichen Kunden warten können, geht dem Buchhändler oder Optikermeister die Luft aus. In den letzten fünf Jahren ist die Kundenfrequenz in der City um ein Drittel gesunken. Als „Wettbewerbsnachteil“ bezeichnet Rita Sparschuh auch die ausgehandelten Öffnungszeiten. Von sechs bis 22 Uhr sind die Bahnhofsgeschäfte geöffnet; in der City müssen die Läden um 20 Uhr dichtmachen.

Während Leipzigs Oberbürgermeister Lehmann-Grube, uneingeschränkter Fan des Projektes, froh ist, die riesige Schmuddelecke ohne städtische Gelder in ein „Schmuckstück“ verwandelt zu haben, preist Planungsdezernent Engelbert Lütke-Daltrup das innerstädtische Kaufhaus mit Bahnanschluß als neues „urbanes Identifikationszentrum“. Endlich müßten die Leipziger nicht mehr ins „Saale-, Paunsdorf- oder „Sachsen-Center“ an der Peripherie, sondern könnten mitten in der Stadt glücklich einkaufen. Womit dann endgültig bewiesen wäre: „Leipzig ist eine europäische Stadt.“

Von der „Kathedrale des Fortschritts“ zum „Kaufhaus mit Gleisanschluß“ – die Leipziger haben sich, entgegen den vollmundigen Sonntagsreden der Stadtpolitiker und Bahnexperten nur widerwillig mit der „Verschandelung“ ihres Bahnhofes abgefunden. Als die ersten Computersimulationen 1994 öffentlich wurden, entzündete sich die Kritik an einem von zwei geplanten Parkhäusern, das direkt in die Haupthalle eingebaut werden sollte. „Parkverbot im Hauptbahnhof“, forderten erboste Leipziger Traditionalisten und sammelten über 30.000 Unterschriften, die sie an einer Wäscheleine quer durch den Bahnhof hängten. Weniger die 400 Autostellplätze erregten die Gemüter als die Tatsache, daß dem Parkhaus drei Gleise geopfert werden müßten. Damit fiele Leipzig mit nun mehr 23 Gleisen gegenüber Frankfurt am Main mit 24 Gleisen zurück – und der Westen hätte mal wieder gesiegt. „Die lachen sich doch kaputt in Frankfurt!“ schrieben die plötzlich von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Leipziger an ihre Lokalzeitungen. „Aber 500 Millionen Investition sind eben ein unschlagbares Argument“, meint der Bahnhofs- schreiber der Leipziger Volkszeitung, Andreas Tappert. Der Protest nützte wenig: Das Parkhaus wurde gebaut – mit zwei Etagen statt den geplanten drei. Zwei Gleise wurden entfernt, und Frankfurt liegt nunmehr gleichauf.