Virtuosencharme

■ In der Musikhalle spielte J. Kissin

Die Weltersten des Piano stehen derzeit Schlange vor dem Solistenzimmer der Musikhalle. Nach Sjatoslav Richter im März und Maurizio Pollini im April nun Jewgenij Kissin, mit 23 zwar noch zu jung für Reihe eins, aber fest darauf abonniert. Hager und groß ist er inzwischen. Und schreitet munter aus unterm schwarzen Lockenkopf. Er beginnt mit Haydns Sonate A Dur Hob. XIV/30, nimmt das satzpausenlose Stück überraschend zügig, unromantisch, geradlinig, dabei geraten sogar die ostinaten Partien des Allegro lebendig, an die Menuett-Variationen gibt er gerade so viel Empfindung, als drinsteckt beim frühen Haydn. Dessen letzte Sonate Es-Dur Hob. XIV/52 spielt er launiger als Richter vor fünf Wochen. Er kann alles.

Nicht immer sollte einer alles machen, was er kann. Die Arpeggien etwa, bei Haydn waren sie besser wohl auch in der Geschwindigkeit gestuft, die Punktierungen des Adagio waren näher an Chopin als an Händel, das Tempo des Presto-Finales perfekt nur mit den Fingern, im Kopf war's verwischt. Beethovens Mondscheinsonate begann Kissin wie ein Trauerstück, das Allegretto passend als tröstlichen Anklang; da blieb der rasend schnelle Presto-Schluß auf der Strecke einer nicht ausgereiften Dramaturgie. Überhaupt, die Klassik scheint für den jungen Russen noch eine Fremdsprache; er spricht sie akzentfrei, aber er fremdelt.

Sein Idiom ist die Romantik. In César Francks spätromantisch entbachten Prélude, Choral und Fuge etwa lebt Bravour. Brahms' Paganini-Variationen op. 35 gerieten ihm zu einer Traumreise durch die Galaxis pianistischer Möglichkeiten. Selten hörte man Brahms so irrepräsentativ unknorrig, so elegant melancholisch. Es fand Verzauberung statt, Hingerissensein von so viel Sinn für Bau und Bogen. Die pianoverwöhnten Hamburger jubelten. Er ließ vier Zugaben springen. Virtuosencharme triumphierte über Jugendsprödigkeit. Kissin weiß, wie es geht. Er wird noch lernen, was.

Stefan Siegert