Diktatoren schreiben keine Briefe

Fast 700 Autoren sind inhaftiert, weil sie das Recht auf Meinungsfreiheit in Anspruch nehmen. Zum heutigen „Writers in Prison“-Tag stellt der PEN fünf exemplarische Fälle vor. Die angeblichen Haftgründe reichen von Pornographie bis zu Terrorismus  ■ Von Jörg Magenau

Der 15. November ist ein ziemlich unaufregender Tag. Am 15.11. 1280 starb der Kirchenheilige Albertus Magnus, 1923 wurde zu diesem Termin die Rentenbank gegründet, und 1959 beschloß die SPD in Godesberg ein neues Grundsatzprogramm. Warum erklärte der PEN-Club 1981 also ausgerechnet den 15.11. zum „International Day Of The Imprisoned Writer“? Brigitte Burmeister und Rajvinder Singh, die zusammen die „Writers in Prison“-Arbeit (WiP) beim ostdeutschen PEN erledigen, wissen es nicht, auch wenn es dafür „bestimmt einen Grund gab“. „Vielleicht“, sagt Singh, „war es aber auch nur der einzige Tag, der noch frei war“ im gut bestückten Sorgengruppenkalender.

Auch Joanne Leedom-Ackerman, Vizepräsidentin des internationalen PEN und bis 1996 chair der WiP-Komitees, hat keine Erklärung. Egal, Hauptsache, es gibt die Hoffnung auf öffentliche Aufmerksamkeit für inhaftierte Autoren. Also noch ein Termin für politisch korrektes Durchatmen. Frauentag, Kindertag, Wüstenrot-Tag: Welcher Begriff gehört nicht in diese Reihe? Und wen kümmert der Writers in Prison Day?

Schwer zu sagen, sagt Mrs. Leedom-Ackerman. „Wir glauben, daß unsere Arbeit wichtig ist, auch wenn sich nicht beweisen läßt, zu welcher der 66 Freilassungen im vergangenen Jahr die Herstellung von Öffentlichkeit etwas beigetragen haben könnte.“ Sie lächelt freundlich, eine resolute amerikanische Autorin, die den Kugelschreiber griffbereit hinters Ohr klemmt: Allzeit bereit! World- wide chair! „Und wenn wir nichts erreichen können, sind die Briefe ins Gefängnis – wo sie möglich sind – für die Empfänger immerhin ein Zeichen von Solidarität, spürbare Unterstützung und das Wissen, nicht vergessen zu sein.“

Wir sitzen im marmorfunkelnden, hellerleuchteten Foyer des Grand Hotels Berlin unter Kronleuchtern. Irgendwo in einer verborgenen Ecke plätschert ein Pianist seichte Melodien zur heiteren Erbauung. Eine Kellnerin fragt nach unseren Wünschen. Die richtige „Free Abu-Jamal!“-Stimmung will sich da nicht einstellen, dafür läßt sich entspannt plaudern über die Aktivitäten der WiP-Komitees. Deren Arbeit ist unscheinbar und mühsam. Man schreibt Petitionen, versendet Faxe und erhält so gut wie nie eine Reaktion, sagt Brigitte Burmeister. Diktatoren schreiben keine Antwortbriefe, und wenn sie sich ärgern, dann tun sie das insgeheim. Nur bei der deutschen Bundesregierung sei es üblich, wenigstens Eingangsbestätigungsschreiben zu versenden. Frustrierend? Ja, schon. Ein Faß ohne Boden. Ein großes „Trotzdem“ ist dieser Arbeit immer eingeschrieben.

Für Rajvinder, sagt Burmeister, ist das etwas anderes. In seinem Geburtsland Indien war er selbst mehrfach im Gefängnis. Man wollte ihm die Zugehörigkeit zu einer terroristischen Gruppe anhängen. 1982 kam er nach Deutschland, ist mittlerweile deutscher Staatsbürger. PEN-Mitglied wurde er nur wegen Writers in Prison: „Wozu ist der PEN denn sonst gut?“ Hier mitzuarbeiten ist ihm biographische Verpflichtung. Seit kurzem ist er auch Stadtschreiber im brandenburgischen Rheinsberg. „Alle Zeitungen haben darüber berichtet, nur nicht die taz“, beschwert er sich, während er mir eine Liste mit fünf Namen überreicht, die am WiP Day im Mittelpunkt stehen sollen. Fünf exemplarische, sehr unterschiedliche Fälle aus verschiedenen Kontinenten – darunter der chinesische Studentenführer Wang Dan, der eine elfjährige Haftstrafe absitzt, und der blinde türkische Autor Esber Yagmurdereli, angeklagt der Unterstützung der PKK. Er wurde zwar im Oktober freigelassen, aber nur aus „gesundheitlichen Gründen“, und kann deshalb jederzeit wieder festgenommen werden.

Aus manchen Ländern fehlen Informationen

Paradoxerweise werden die Fälle inhaftierter Autoren, um die es sich zu kümmern gilt, mit der aufgewandten Mühe nicht weniger, sondern immer mehr – parallel zur Verbesserung der weltweiten Kommunikationswege und Mediennetze. Das ist so ähnlich wie in der Medizin, deren Fortschritt Krankheiten ja auch nicht minimiert, sondern vervielfacht. Fast 700 Fälle registrierte der mikroskopische Blick der WiP-Komitees allein im ersten Halbjahr 1997, darunter 13 Morde, 33 spurlos Verschwundene und 12 Langzeitinhaftierte. Die Dunkelziffer ist höher. Daß man immer nur von einigen wenigen hört – Namen wie Rushdie, Sarkuhi, Nasrin –, liegt an der Trägheit des medialen Interesses. Das Prinzip Prominenz funktioniert auch bei verfolgten Autoren.

Dabei, sagt Leedom-Ackerman, gibt es viele Fälle, die ähnlich gelagert sind wie der von Faradsch Sarkuhi. Aus manchen isolierten Ländern sind kaum Informationen zu bekommen. Aus Libyen beispielsweise sind nur zwei Fälle bekannt, aber das bedeutet nicht, daß es um die Meinungsfreiheit dort besser stünde als in der Türkei, die das längste Fallregister aufweist. Der Übersetzer Abdelrahman Ali Gaily lebte mit Frau und zwei Kindern in Finnland und arbeitete an einer Gaddhafi-Biographie. Im März 1983 wurde er verschleppt und wird bis heute vermutlich in einem Gefängnis in Tripolis gefangengehalten. Vor drei Jahren wurde er dort angeblich von einem Zeugen gesehen, so daß man vermuten kann, er lebt. Wenn er nicht aus Finnland verschwunden wäre, sondern innerhalb Libyens, wüßte man wohl auch von diesem Fall nichts.

Die Kriterien, aktiv zu werden, sind klar. Writers in Prison – 49 der insgesamt 126 PEN-Zentren arbeiten darin mit – setzt sich für alle Autoren ein, die wegen ihrer Meinungsäußerungen verhaftet oder unter Druck gesetzt werden, vorausgesetzt, sie verbreiten keine rassistischen Ideen und propagieren keine Gewalt. Joanne Leedom-Ackerman erinnert sich nur an zwei Fälle, in denen man sich „geirrt“ habe – einer davon im ehemaligen Jugoslawien, wo es in der Kriegssituation besonders schwer gewesen sei, die Grenze zwischen Meinungsfreiheit, Gewalt und Rassismus zu ziehen.

Auch „bloße Pornographie“ ist ein Ausschlußgrund. Was ist „bloße Pornographie“? Na ja, sagt Singh, Henry Miller ist Literatur. Pornographie ist, wenn es nicht literarisch ist. Joanne Leedom- Ackerman greift zum amerikanischen Extrembeispiel, um keine Grenzwertdiskussion aufkommen zu lassen: „Bloße Pornographie ist zum Beispiel Kindesmißbrauch.“ Im Fall des ägyptischen Erzählers Ala'a Hamed handelt es sich demnach nicht um „bloße Pornographie“, obwohl er für ein Jahr in einem Gefängnis in Kairo sitzt, weil sein Buch „The Bed“ angeblich pornographisch ist. Auch er gehört zu den fünf Exempeln des Writers in Prison Day. Bereits 1990 war Ala'a Hamed für einige Monate inhaftiert, damals wegen des Vorwurfs der Blasphemie gegen sein Buch „A Distance in a Man's Mind“. Da hatte er von einer Reise ins Paradies und einem Treffen mit dem Propheten erzählt. Aus inhaltlichen Diskussionen hält WiP sich heraus, um Neutralität zu wahren. „While International PEN does not take position on the views expressed in ,The Bed‘, it firmly believes that Ala'a Hamed has a right to express them“, heißt es in der veröffentlichten Erklärung. Das klingt ein bißchen feige und sehr diplomatisch, ist aber radikaler, als wenn man sich nur für die Positionen einsetzen würde, die man zufällig selbst teilt. Es geht immer um die Idee der Meinungsfreiheit und um nichts sonst.

In Kuwait kümmert sich das WiP-Komitee um den 75jährigen irakischen Poeten Khalaf' Alwan Jallud Al-Maliki. Er wurde im Mai 1991 im Anschluß an den Golfkrieg verhaftet und der „Kollaboration“ mit dem Irak für schuldig befunden. Das Urteil „lebenslänglich“ wurde mittlerweile auf 15 Jahre reduziert. Al-Maliki war Mitglied einer irakischen Künstlertruppe aus Schauspielern und Musikern, die während der irakischen Besatzung Konzerte gaben. Nach der Befreiung wurde das – und insbesondere die Texte Al-Malikis – als „feindliche Propaganda“ gewertet. Al-Maliki wird 84 Jahre alt sein, wenn er im nächsten Jahrtausend entlassen wird.

Meinungsfreiheit als Demokratie-Indikator

Häufig werden die inhaftierten Autoren konstruierter Verbrechen angeklagt, und es ist schwer, die Hintergründe genau zu recherchieren, Fakten und Fiktionen zu trennen und zu beweisen, daß es eigentlich um die Unterdrückung der Meinungsfreiheit geht. Der peruanische Journalist Javier Tuanama Valera beispielsweise, ehemaliger Chefredakteur der Zeitschrift Hechos, ist seit sieben Jahren wegen „Terrorismus“ inhaftiert. 1994 wurde er von einem sogenannten faceless tribunal in einem Geheimverfahren zu zehn Jahren verurteilt. Schlüssige Beweise gibt es nicht, wohl aber die Aussagen seiner Familie und einiger Kollegen, Tuanama Valera sei allein wegen seiner kritischen Artikel über die Polizei beiseite geschafft worden. Writers in Prison fordert in diesem Fall die Wiederaufnahme des Prozesses und ein faires, öffentliches und nachvollziehbares Verfahren.

Ähnlich wie amnesty international versteht sich Writers in Prison als humanistische und nicht als eine „politische“ Organisation, die bestimmte Inhalte vertritt. Doch naturgemäß ist das Engagement für Meinungsfreiheit immer politisch und wird von den Machthabern, gegen die man sich wendet, auch so verstanden. „Meinungsfreiheit ist die Grundlage aller anderen Werte in einer Gesellschaft“, sagt Rajvinder Singh. „An ihr ist der Zustand einer Demokratie abzulesen wie nirgendwo sonst. Deshalb sind ja Autoren als Exponenten öffentlicher Meinung besonders gefährdet. Sie sind nicht die besseren Menschen, sie sind keine Avantgarde und auch nicht das moralische Gewissen einer Nation. Aber sie sind so eine Art soziales Gewissen, Indikatoren für den Zustand einer Gesellschaft. Man sollte besser von den sozialen Zusammenhängen sprechen und nicht von Moral.“

Deshalb ist die Arbeit von Writers in Prison ja auch so wichtig und mehr als bloße Solidarität unter Berufskollegen, wichtiger als – sagen wir mal – „Bäcker im Gefängnis“, wenn es so etwas gäbe. Denn erstens werden Bäcker nicht wegen ihres Bäckertums verhaftet, und zweitens geht es bei ihnen nicht um Meinungsfreiheit als Prinzip. Die besseren Brötchen wurden, wie man in Berlin weiß, sowieso in der sozialistischen Hälfte und nicht im demokratischen, marktwirtschaftlichen Sektor gebacken; die Überlegenheit der Ostschrippe war signifikant. „Autoren sind Indikatoren und Multiplikatoren der Freiheit“, sagt Singh noch einmal zum Mitschreiben und überreicht mir zum Abschied seine Visitenkarte. Die Nummer aus Rheinsberg notiert er extra dazu. „Vielleicht macht die taz ja doch noch was über meinen Stadtschreiberposten.“ Der Pianist im Hintergrund setzt im Rahmen seiner Möglichkeiten zu einem Crescendo an.