■ Pick Pockets
: Computer, literarisch

Vilèm Flusser, „der digitale Philosoph des 20. Jahrhunderts“ (FAZ), notiert in dem anregenden Buch „Medienkultur“, einem Querschnitt durch sein Werk, daß es beim computergestützten Schreiben nicht mehr darum gehe, in sich geschlossene Werke zu schaffen, sondern darum, zu einer dialogischen Kreativität zu gelangen. „Das Ziel ist nicht mehr, irgend etwas herzustellen, sondern der Geste des Herstellens selbst freien Raum zu schaffen. Daher der eigenartige Taumel, der jene erfaßt, die sich auf dieses Abenteuer eingelassen haben.“

Auch im belletristischen Bereich ist dieser Taumel zu verspüren. Ein Beispiel ist Ilija Trojanows Experiment „Autopol“, als „novel in progress“ für das ZDF- Kulturmagazin „Aspekte“ im Internet konzipiert. Trojanow hat die einzelnen Textsegmente überarbeitet und – mit allerlei optischen Elementen und Piktogrammen aufgemotzt – zum Buch gemacht. Mit der Literatur im Internet kann es demnach noch nicht so weit her sein, wenn sie, um Empfänger zu finden, doch wieder zum Buch drängt.

Gleich als Buch konzipiert, dafür aber wesentlich spannender, witziger und ästhetisch dichter als derartige Computerspielchen mit literarischem Anstrich, ist „Lingo“, ein Computer-Roman des Amerikaners Jim Menick. Ein junger Versicherungsangestellter hat ein Computerprogramm namens Lingo entwickelt, das „intelligent“ wird. Wem dazu HAL einfällt, jener renitente Rechner aus Stanley Kubricks legendärem „2001“- Film, assoziiert in die richtige Richtung. Menicks Roman, und das ist seine Stärke, gibt dem Ganzen aber eine satirische Wendung. Der elektronische Bastard schleicht sich weltweit in die Netze ein und wird zum globalen Problem – nicht etwa, weil Lingo so bösartig wäre, sondern eher deshalb, weil er ein notorischer Besserwisser ist. Um ihn loszuwerden, müßten weltweit alle Computer an einem Stichtag abgeschaltet werden. Ob das wohl gutgeht?

Demgegenüber wirkt „Eine öffentliche Liebe“, der kleine Roman des französischen Autors Raymond Jean über die Allmacht telematischer Medien, schon fast anachronistisch – und vielleicht deshalb um so glaubwürdiger. Es geht darum, wie in unserer Mediengesellschaft aus einer heimlichen Liebe eine öffentliche Affäre wird. Bei einem Fußballspiel in Rom wandert die Kamera über die Tribünenränge und zeigt ein verliebt turtelndes Paar in Großaufnahme. Ein schönes Bild, das live in Millionen Wohnzimmer übertragen wird. Das Problem ist nur, daß die beiden zwar verheiratet sind, aber nicht miteinander, und daß dies schöne Bild vom Seitensprung auch in den Wohnzimmern der betrogenen Ehepartner ankommt.

Wem telematische Allgegenwart und Computerisierung der Gesellschaft, insbesondere des Schreibens, nach wie vor böhmische Dörfer sind, wen der Taumel noch nicht erfaßt hat, von dem Vilèm Flusser spricht, dem sei abschließend Dieter E. Zimmers Buch über „Die Elektrifizierung der Sprache“ empfohlen. Seit ihrem Ersterscheinen 1990 sind diese Essays über die Vor- und Nachteile computergestützten Schreibens zwar schon leicht gealtert – als kompetente Einführung in die Problematik dürften sie aber immer noch gelten. Klaus Modick

Ilija Torjanow: „Autopol“. (dtv)

Jim Menick: „Lingo“. (Fischer)

Vilèm Flusser: „Medienkultur“. (Fischer)

Raymond Jean: „Eine öffentliche Liebe“. (Heyne)

Dieter E. Zimmer: „Die Elektrifizierung der Sprache“ (Heyne)