Indiens Nordosten im Ausnahmezustand

In Assam kämpfen militante Ureinwohner der Bodos gewaltsam gegen Einwanderer aus Bangladesch. Bisher haben weder das Militär noch Autonomieversprechen oder Verhandlungen den Konflikt entschärfen können  ■ Aus Guwahati Rainer Hörig

Am Fuß einer bewaldeten Hügelkette im äußersten Westen Assams liegt das Dorf Chakrashila. Auf den Feldern steht leuchtend grün der junge Reis, Büffel und Kühe grasen am nahen Fluß. In jedem Bauernhof steht ein Webstuhl, auf dem die Frauen bunte Stoffe für ihre Wickelgewänder knüpfen. Die Bewohner von Chakrashila rechnen sich zum Volk der Bodos, den Ureinwohnern des Brahmaputra-Tals.

Im frühen Mittelalter herrschten Bodo-Könige über ganz Assam. Heute müssen die Bodos das Land mit vielen anderen Völkern teilen, klagt der Bauer Darandra Mosaheri und beobachtet argwöhnisch die Flüchtlingssiedlungen, die in Sichtweite aus dem Boden wachsen: „Seit zwanzig Jahren kommen sie aus Bangladesch herüber, immer mehr. Sie besetzen unser Weideland und holzen den Wald ab, der einst unser Dorf umgab. Viele Bodos haben alles Land verloren und mußten ihre Dörfer verlassen. Wie lange werden wir wohl noch ausharren können?“

Mosaheri hat nichts dagegen, daß militante Bodos gegen die Einwanderer vorgehen. Seit Jahren werden in Assam Dörfer überfallen, Häuser niedergebrannt, Männer, Frauen und Kinder massakriert. Doch weder ziehen die illegalen Einwanderer ab, noch ergreift die Landesregierung Maßnahmen, den Zuzug aus Bangladesch zu stoppen. Guerillas attackieren nun öffentliche Einrichtungen mit Bomben und zerstören Flüchtlingssiedlungen. Zwei Untergrundarmeen kämpfen für einen selbständigen Staat der Bodos, für den sie die nördliche Hälfte Assams beanspruchen. Eine andere Guerilla will die Loslösung Assams von Indien. Auch die Flüchtlinge haben eine bewaffnete Truppe aufgestellt. Ein Ende der Gewalt ist nicht abzusehen.

Während der Teilung Britisch- Indiens vor 50 Jahren flohen erstmals Millionen Menschen aus Bengalen in den Nordosten. Dann trieb der Krieg um die Unabhängigkeit von Bangladesch 1971 neue Flüchtlinge über die Grenze. 1997 wandern immer noch Tausende in den vergleichsweise menschenleeren indischen Nordosten, um Hunger und Naturkatastrophen in Bangladesch zu entkommen.

Anfänglich wurden die Flüchtlinge als billige Arbeitskräfte willkommen geheißen. Aber heute fühlen sich die 31 Millionen Bewohner des indischen Nordostens bedroht durch 120 Millionen Bangladeschis in ihrer Nachbarschaft. Die 4 Millionen Bodos etwa blicken mit Schaudern auf den indischen Grenzstaat Tripura, wo Einwanderer die indigene Bevölkerung innerhalb von 25 Jahren zur Minderheit machten. Viele kleine Völker kapseln sich ab, besinnen sich auf die eigene Kultur und stellen aggressiven Nationalismus zur Schau. Im Nordosten ertönt der Ruf nach Selbstbestimmung in neuen Verwaltungseinheiten, auch der nach Sezession.

Um 9 Uhr startet der Nachtbus von Shubri im Westen nach Guwahati, der Hauptstadt Assams. In dieser Nacht schließen die Fahrgäste nur selten die Augen. Manche denken an die Bombe, die hier vor wenigen Wochen mitten im Gebiet der rebellischen Bodos einen Reisebus zerriß. Immer wieder wird die Fahrt durch Straßensperren unterbrochen. Schwerbewaffnete Soldaten suchen den Bus mit Scheinwerfern ab. Plötzlich heißt es: Alle aussteigen, Gepäck mitbringen! Der Offizier verliert nicht viele Worte, denn die Durchsuchung ist ein einstudiertes Ritual. Passagiere in einer Reihe aufstellen, Jacken öffnen, Hosentaschen leeren! Ein junger Soldat inspiziert das Handgepäck. Einsteigen, weiter geht's zur nächsten Barrikade.

Assam im Ausnahmezustand. Die von Neu-Delhi geschickte Armee, nicht die Landesregierung führt im sogenannten Vereinigten Befehlsstab das Wort, der alle Polizisten, Paramilitärs und Soldaten in Assam kommandiert. Bedarfsweise kann die Regierung der Armee mit dem „Armed Forces Special Powers Act“ Vollmacht erteilen, auf jeden Verdächtigen zu schießen. Immer wieder klagen Dorfbewohner, die Soldaten würden sich wie eine Besatzungsmacht aufführen und Unschuldige mißhandeln, ja töten.

In den frühen achtziger Jahren probte ganz Assam den Aufstand. Angeführt vom der Studentenunion Assams (AASU) gingen Arbeiter und Intellektuelle, Bäuerinnen und Hausfrauen auf die Straße, um die Ausweisung illegaler Einwanderer zu erzwingen. Als die damalige Premierministerin Indira Gandhi 1983 in Assam Wahlen anberaumte, brach dort Mord und Totschlag aus. Mehrere tausend Menschen, hauptsächlich muslimische Bengalen, wurden massakriert, neue Flüchtlingsbewegungen in Gang gesetzt. 1985 unterzeichneten die AASU und die Zentralregierung eine Vereinbarung, die die Einwanderung stoppen sollte. Aus dem Studentenverband AASU ging wenig später die Partei Asom Ganga Parishad hervor, die heute die Landesregierung führt und eine wichtige Rolle in der Mitte-links-Koalition in Neu-Delhi spielt.

„Das Abkommen von 1985 ist in wesentlichen Teilen Papier geblieben“, kritisiert sein Nachfolger an der Spitze der AASU, Sorbananda Sanowal, der in einer Kolonialvilla am Stadtrand von Guwahati täglich Dutzende von Besuchern und Bittstellern empfängt. „Wir fordern, daß endlich die Fremden identifiziert und ihre Namen aus den Wählerlisten gestrichen werden. Alle, die nach 1971 gekommen sind, müssen zurückgehen.“

Im vergangenen Juni organisierte die AASU einen Generalstreik, der den Verkehr im gesamten Nordosten sechsunddreißig Stunden lahmlegte. Kurz zuvor war Regierungschef Mahanta nur knapp einem Bombenattentat der „Vereinigten Befreiungsfront von Assam“ entgangen, die mit Waffengewalt für die Sezession von Indien kämpft.

Weil der heutige Regierungschef Prafulla Mahanta wie seine Vorgänger die Armee zu Hilfe rief, anstatt das Flüchtlingsproblem an der Wurzel zu packen, hat der ehemalige Studentenführer seine Glaubwürdigkeit verloren. Von Guerilleros und unzufriedenen Gefolgsleuten unter Druck gesetzt, trat Mahanta im September die Flucht nach vorn an und beschuldigte die Teegesellschaft Tata Tea, eine Tochter des zweitgrößten Privatkonzerns des Landes, die Bodo-Untergrundkämpfer unterstützt zu haben. Der Guerillas zahlen jedoch selbst Behörden „Schutzgelder“.

Die jüngste Geschichte des Nordostens ist eine Litanei gebrochener Versprechen. Mehrmals hat die Regierung Guerillagruppen mit Autonomieofferten zu Friedensverhandlungen bewegt, doch selten erfüllten die Übereinkommen die Hoffnungen der Menschen. Die 1993 vereinbarte Einrichtung eines Autonomen Rates für die Bodo-Gebiete beispielsweise findet kaum noch Befürworter. „Die Landesregierung kann jederzeit nach eigenem Gutdünken den Rat auflösen“, kritisiert Urkhao Gwra Brahma, der Präsident des Studentenverbandes der Bodos (ABSU). „Der Rat hat nicht einmal die Befugnis, einen Haushalt zu verabschieden, ist also vollständig auf Gelder der Regierung von Assam angewiesen. De facto hat sich also gar nichts geändert. Seit dem Massaker von Gohupur 1983, als Assamesen 1983 mindestens 300 Bodos umbrachten, weil sie den Aufruf zum Wahlboykott nicht befolgten, wissen wir, daß wir nur in einem eigenen Staat sicher sein können.“ Im Oktober scheiterten Verhandlungen in Neu- Delhi über eine Modifizierung des Bodoland-Abkommens. Die Bodo-Vertreter wollen nun ihre Agitation für einen eigenen Bundesstaat intensivieren.

Am Ufer des Gangadhar-Flusses drängen sich 5.000 Menschen in winzigen, aus Bambusstangen und Plastikplanen errichteten Hütten. Mit nackten Babys auf dem Arm treten Frauen und Männer jedem Besucher entgegen und flehen um Hilfe. „Mein Dorf Bambla wurde nachts von 300 bewaffneten Männern überfallen“, klagt Gunda Tuddu. „Die Angreifer prügelten rücksichtslos auf uns ein, steckten unsere Häuser in Brand und raubten das Vieh. Sie befahlen uns zu verschwinden und drohten uns mit dem Tod, falls wir es wagen sollten zurückzukehren.“

Gunda Tuddu gehört zum Stammesvolk der Santhal. Britische Pflanzer hatten seine Vorfahren im vergangenen Jahrhundert in Bengalen angeheuert und zur Arbeit auf Teeplantagen nach Assam geholt. Als Gunda Tudda keine Arbeit mehr fand, machte er Land urbar und ließ sich in Bamla nieder. Doch im Mai 1996 verloren er und weitere 200.000 Santhal Haus und Hof, als Bodo-Guerilleros ihre Dörfer angriffen. Nun sind sie auf die Gnade der Behörden angewiesen. „Wir haben keine Arbeit und leiden Hunger!“ klagen die Flüchtlinge. „Lieber heute als morgen würden wir in unsere zerstörten Dörfer zurückgehen und einen Neuanfang versuchen, wenn die Regierung uns Soldaten zum Schutz und Nahrungsmittel bis zur Ernte mitgeben würde.“