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■ Nebensachen aus MoskauMagie statt Materialismus

Gott bewahre! Über die Türschwelle hinweg einem Russen die Hand zu geben, sich gar mit ihm zu unterhalten, mag schwerwiegende Folgen haben. Die Freundschaft kann es kosten.

Der Volksglaube weiß von schrecklichen Strafen zu berichten. Unter Leitern durchzulaufen, den Weg einer schwarzen Katze zu kreuzen, flößt Russen auch heute noch ein unangenehmes Gefühl ein. Ist es passiert, bereden sie ihr Unbehagen. Anekdote folgt auf Anekdote, je nach Bildungsgrad schließen sich metaphysische Betrachtungen über die Welt des Übersinnlichen an.

Selbst die Aufgeklärteren glauben an Omen, tragen Amulette und diskutieren das Übersinnliche mit wissenschaftlichem Ernst. Frauen wehren sich gegen Blicke des Bösen durch Ringe mit einschlägigem Gestein. Im Mai sinkt drastisch die Zahl der Eheschließungen, weil eine Heirat die Neuvermählten zum lebenslänglichen „maijatsa“ (Leiden) verurteilen würde. Und im Fernsehen klopft selbst ein reformfreudiger Minister auf Holz, um potentielle Störenfriede abzuschrecken.

Im Unterschied zur Wirtschaft boomt in Rußland der Aberglaube. Accessoires aus der Welt der Geister und des Antichristen sind in Spezialgeschäften erhältlich. Kosmische Kurse werden angeboten, wie sich das Schicksal ändern und der „Schlüssel zur Unsterblichkeit“ finden läßt. Das Lectorium Rosicrucianum führt in die „Kräfte dese Mystischen“ ein. Anläßlich eines Gastspiels des Magiers David Copperfield in Moskau warnte gar ein Hohepriester der orthodoxen Kirche eindringlich die Volksseele vor den satanischen Kräften des Illusionskünstlers.

Natürlich! „70 Jahre verordneter Materialismus“, analysiert die abgeklärte Westvernunft. Doch die Sache ist komplizierter. Auch die Kommunisten nahmen Rücksicht auf den Doppelglauben (dwoewerie).

Da Muttermale Unglück verheißen, wurde das beeindruckende Mal am Kopf des letzten Generalsekretärs auf Abbildungen wegretuschiert.

Und ist es nicht auch eine Art Geisterglaube, der einbalsamierten Leiche Lenins zu huldigen? Bei Marx und Engels finden sich jedenfalls keine Hinweise, die ein solches Verhalten rechtfertigen.

Mein Bekannter Edik erkennt frühzeitig die Zeichen. Als das Versandgeschäft mit dem Antihaarausfall-Massagegerät nicht mehr recht lief, sattelte er um. Nun nennt er sich Psychotherapeut und verkauft Sphärenmusik. Eigenkompositionen. Ein Buch hat er auch studiert. Seine Reinkarnationstherapie entpuppt sich unterdessen als Bombenerfolg. Hilfesuchende vertröstet er reihenweise auf später. Auf die Idee, stattdessen einen Psychologen aufzusuchen, kommt keiner. Wirksame Hilfe verspricht allein das Medium des Übersinnlichen.

Manchmal beschleicht mich die bange Angst, die letzten 500 Jahre seien nur ein Spuk gewesen. Wenn nicht, dann ist Rußland der endgültige Beweis für die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Klaus-Helge Donath

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