Nur der Name ist geblieben

Zu machtverliebt, um Dogmatiker zu sein: Georges Marchais, langjähriger Führer der französischen Kommunisten, ist tot  ■ Von Christian Semler

Einstmals war er der autokratische Parteiführer, der Organisationsvirtuose, der gewiefte Demagoge. Zum Schluß war er vereinsamt, einflußlos, alt und krank. „Die Partei“ wollte Georges Marchais nicht mehr. So griff er Anfang dieses Monats, fast zeitgleich mit der Sitzung des Nationalen Komitees (früher ZK) der Kommunistischen Partei Frankreichs, zu dem seltsamen Mittel des Selbst-Interviews in der Parteizeitung L'Humanité. Es sollte die letzte Äußerung des ausgedienten Schlachtrosses werden. Gestern früh ist der 77jährige Marchais, seit Jahren schwer herzkrank, in einer Pariser Klinik gestorben.

In seiner Selbstbefragung, der das Parteiblatt einen maliziösen Kommentar voranstellte, geben sich alle politischen Stereotype des Veteranen ein letztes Stelldichein: „Mutation“, also Wandel der Partei ja, aber nicht auf Kosten ihrer „Identität“. „Wissenschaftliche Aufklärung“ über die Irrtümer und Verbrechen des Kommunismus ja, aber bitte ohne Schlußfolgerungen. Die Abscheulichkeiten, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, machen nicht sein Wesen aus, sie sind vielmehr seine Verneinung. Und schließlich: an den Händen der französischen Kommunisten klebt kein Blut.

Georges Marchais war ein Produkt des kalten Krieges, als man sich entscheiden mußte: für oder gegen das sozialistische Lager. Anders als sein Mentor und Vorgänger, der sensible, innerlich zerrissene Waldeck-Rochet, traf der 1956 ins ZK eingerückte Marchais seine Wahl klar und unumstößlich. Er hielt durch dick und dünn zur sowjetischen Parteiführung, auch wenn er sie, wie nach dem Einmarsch in die ČSSR 1968, öffentlich kritisierte. Diese Kritik erwies sich als taktisches Manöver. Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan elf Jahre später sah Marchais wieder auf der „richtigen“ Seite.

Ein Dogmatiker ist er nie gewesen. Dafür liebte er zu sehr den Pragmatismus der Macht. Schließlich war er es selbst, der im Honeymoon des Eurokommunismus nach seiner Berufung zum Generalsekretär 1972 die „Diktatur des Proletariats“ aus dem Parteiprogramm entfernte. Allerdings ohne irgendeine nennenswerte Debatte darüber, was dieses Wörtchen „Diktatur“ eigentlich ursprünglich bedeutet und welche Karriere es genommen hatte. Marchais steuerte die KPF in die Koalition mit den Sozialisten Mitterrands hinein und wieder heraus, als die Gewinn- Verlust-Rechnung zu deutliche Vorteile der Sozialisten auswies. Letztlich zählte für Marchais nur die Partei. Sie galt es zu schützen, von Abweichungen zu säubern, effizient zu erhalten. Wenn Marchais an ein Dogma geglaubt hat, dann an den demokratischen Zentralismus – bekanntlich keine kommunistische Erfindung.

Geboren am 7. Juni 1920 in La Houguette in der Normandie, entstammte Georges Marchais dem dichten Arbeitermilieu des Nordens, wo die Spaltung der Arbeiterbewegung besonders spürbar war. Wer hier Kommunist war, blieb es. Zwei Generationen lang, bis der entwickelte Kapitalismus es zersetzte, bildete das kommunistische Milieu im Norden, in der Banlieue um Paris herum, in der Provence und im Languedoc die tagtägliche Gegenwelt, in der man sich gemütlich einrichten konnte. Der Immobilismus, die Selbstgenügsamkeit, der „identitäre“ Konservativismus, den der jetzige Parteichef Hue an seinen Genossen ständig kritisiert – hier hatten sie ihre Quelle. Als es mit der kommunistischen Vorherrschaft in „ihrem“ Milieu zu Ende ging, geriet auch Marchais' Vorherrschaft über die Partei in die Krise. „Macht das Fenster auf, Genossen“, hatte ihm sein linker Kritiker Etienne Balibar schon frühzeitig zugerufen. Solange es ging, hat der Schein-Erneuerer Marchais die Partei von Zugluft ferngehalten. Bis er nach einer Kette von Niederlagen 1994 zum Rücktritt gezwungen wurde.

Eigentlich hätte es gut zu Marchais gepaßt, mittels einer weiteren kosmetischen Operation den Namen der Partei zu ändern, damit sie bleiben kann, was sie bis in die frühen neunziger Jahre war: ein autoritäres Unternehmen. Aber die Partei ist Marchais und seinen technischen Gehilfen entglitten. Sie stellt sich heute als Patchwork dar, als Sammlungsbewegung unterschiedlichster Interessen. Der Beton hält den Laden nicht mehr zusammen. Weil das so ist, eiferte Marchais bis zum Schluß gegen eine Umbenennung des Parti Communiste Français. Wenigstens der Name mußte bleiben, als unheimliches, unverständlich gewordenes Mahnmal nicht für das utopische Andere zum Kapitalismus, sondern für die Machtmaschine, die ihn brechen sollte.