Indiens Regierung vor dem Sturz

■ Kongreß-Partei entzieht der Regierung nach einem Bericht über den Mord an Rajiv Gandhi die Unterstützung. Neuwahlen wahrscheinlich

Neu-Delhi (taz) – Die Vereinigte Front, Indiens anderthalbjährige Koalitionsregierung, steht vor dem Fall. Am Montag drohte ihr Sitaram Kesri, der Präsident der Kongreß-Partei, die parlamentarische Unterstützung aufzukündigen, ohne die das Minderheitskabinett von Premierminister Inder Gujral nicht überleben kann. Gujral hatte bereits am Wochenende das nahe Ende vorausgesehen und öffentlich verkündet, Neuwahlen stünden vor der Tür.

Der Kongreß hatte darauf beharrt, die südindische DMK-Partei aus der Regierungskoalition zu entfernen. Doch die 13 Koalitionspartner gaben zu verstehen, daß sie lieber erhobenen Hauptes untergehen, als sich von einem so sprunghaften Freund wie dem Kongreß noch einmal erpressen lassen wollten. Bereits im April hatte der Kongreß seine Zusammenarbeit aufgekündigt und den damaligen Premierminister Deve Gowda zum Rücktritt gezwungen. Neuwahlen konnten seinerzeit vermieden werden, da mit Gujral ein dem Kongreß genehmer Politiker Regierungschef wurde.

Ein weiteres Indiz, daß Neuwahlen nun unausweichlich geworden sind, gab gestern Parlamentspräsident P. A. Sangma, als er die Abgeordneten „für unbestimmte Zeit“ in die Ferien schickte. Gujral und Kongreß-Präsident Kesri versuchten in beinahe stündlichen Telefongesprächen bis zum Schluß, die Koalition zu retten. Aber bei den Kongreß-Abgeordneten hatte sich nach der Publikation eines Untersuchungsberichts über den Tod von Rajiv Gandhi vor sechs Jahren die Lust dazu verflüchtigt.

Der Bericht machte die DMK- Partei aus dem südindischen Bundesstaat Tamil Nadu für den Mord an Gandhi indirekt verantwortlich. Diese habe die srilankischen „Befreiungstiger von Tamil Eelam“ (LTTE), aus deren Mitte die mutmaßliche Mörderin stammt, große Bewegungsfreiheit gegeben. Die LTTE habe diese genutzt, um das Attentat auf den Kongreß-Vorsitzenden Gandhi zu planen. Kongreß könne eine Regierungskoalition mit einer solchen Partei nicht unterstützen.

Die Regierung wies diese Anschuldigung zurück. DMK-Präsident Karunanidhi erklärte, die DMK sei vier Monate vor dem Mord im Teilstaat Tamil Nadu gar nicht mehr am Ruder gewesen. Sie sei zudem mit der massiven Niederlage in den folgenden Wahlen genügend bestraft worden. Schließlich hätten alle Parteien – auch Rajiv Gandhi und dessen Mutter Indira – die LTTE unterstützt. Das überstürzte Ultimatum, noch bevor der Bericht überhaupt debattiert werden konte, ist ein Indiz, daß es dem Kongreß nicht allein um das Andenken an ihren Führer ging. Die Partei, die in 45 der letzten 50 Jahre die Regierung gestellt hat, kann sich mit ihrer Zwitterrolle, in der sie sich weder an der Macht beteiligt noch zu dieser in Opposition steht, immer weniger abfinden. Der Untersuchungsbericht war mehr als nur ein willkommener Anlaß zum Regierungssturz. Die Partei ist orientierungslos, seit die Nehru-Gandhi- Dynastie abgetreten ist. Mit dem Andenken an den „Märtyrer“ Rajiv Gandhi hofft ein Großteil der Abgeordneten, noch einmal Stimmen zu bekommen. Und sie hoffen, daß Sonia Gandhi, die sphinxhafte Witwe Rajivs, endlich ihr Schweigen bricht und sich an ihre Spitze setzt.

Premierminister Gujral wird nun in kürze Staatspräsident Kocherill Narayanan den Rücktritt anbieten. Falls Narayanan der Meinung ist, das Volk sei nicht bereit, schon nach einem Drittel der Legislaturperiode wieder an die Urne zu gehen, könnte er eine andere Partei zur Regierungsbildung auffordern. Die größte Oppositionspartei, die nationalistische Hindupartei BJP, hat sich bereits angeboten. Aber für eine Mehrheit fehlen ihr 80 Abgeordnete. Der Präsident müßte deshalb befürchten, daß dies zahlreiche Absprachen auslösen und den angeschlagenen Ruf des politischen Systems weiter beschädigen würde. Verfassungsexperten raten Narayanan daher, das Parlament aufzulösen und innerhalb von 90 Tagen Neuwahlen auszuschreiben. Bernard Imhasly