Das Maskenspiel der Poesie

Der Dichter als irischer Mönch, als Handwerker oder als arabischer Nomade: ein Gespräch mit Raoul Schrott über lyrischen Erkenntnisgewinn, zeitgemäße Sprache, Originalität und Diebstahl

taz: Mit der Anthologie „Die Erfindung der Poesie“ legen Sie die Ergebnisse Ihrer Auseinandersetzung mit der frühesten überlieferten Lyrik vor. Ist die Rückwendung zu den Geburtsstätten der Poesie kulturarchäologisch motiviert oder als Kritik an zeitgenössischer Dichtung zu verstehen?

Raoul Schrott: Da einem niemand beibringt, wie man Dichter wird, ist das Übersetzen die einzige Möglichkeit, sich poetische Fingerfertigkeit und einen poetischen Horizont anzueignen. Als ich, etwa vor zehn Jahren, zu schreiben anfing, waren die Autoren meiner Generation entweder einem sentimentalen Bereich oder textgenerativen Verfahren verhaftet. Das blieb letztlich unbefriedigend, weil dies nur zwei marginale Erscheinungen der Lyrik sind: visuelle und auditive Poesie auf der einen und sentimentale Schulbuchlyrik auf der anderen Seite. Der Reim war verpönt, und die Diskussion ging darum, ob man Genitivmetaphern gebrauchen darf oder nicht. In diesem Zusammenhang war es für mich wichtig und interessant, wer den Reim und die Strophe überhaupt erfunden hat. Welche Funktionen und Legitimationen Lyrik herausgebildet hat. Ich wollte zu den Quellen vorstoßen. Zum anderen ist das Übersetzen hauptsächlich eine Lust, etwas in eine gegenwärtige Sprache zu bringen, und damit zu zeigen, daß Poesie sehr viel sinnlicher, bildlicher, musikalischer sein kann, sehr viel konkreter und welthaltiger, als sie es jetzt im Augenblick ist.

Interessant war für mich die Erkenntnis, daß sich Lyrik aus zwei wesentlichen Komponenten definieren läßt. Sie hat viel mit musikalisch geformter Sprache zu tun, wobei dieser Klangreichtum nie auf künstlichem Weg von den Dichtern hergestellt wurde, sondern nur hervorholte, was latent in der Umgangssprache vorhanden ist. Diese Dichter benutzen keine gestelzten Formen, jene Art poetischer Technik, wie man sie bei uns noch aus dem letzten Jahrhundert kennt. Deswegen macht es in meinen Augen auch wenig Sinn, ein antikes Versmaß eins zu eins abzubilden, weil die römische und die griechische Sprache vollkommen andere Verhältnisse zwischen Konsonanten und Vokalen aufweisen, eine andere Grammatik, die in vielerlei Hinsicht wesentlich konziser ist als das Deutsche.

Ihre Kritiker werfen Ihnen vor, bloß Fundstücke zu pflegen, anstatt selbst zu dichten. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang Ihr „Pamphlet gegen eine modische Dichtung“.

Das Moderne definiert sich mit Benjamin als das, was gerade wieder vergessen ist und wieder neu belebt wird. Im „Pamphlet“ ging es mir darum, eine gewisse elitäre Haltung in der Lyrik auszustellen und polemisch zu zeigen, wo die Gemeinplätze sind, die hinter der Lyrik stecken. Dazu gehören solche Sätze wie: „In der Neurologie liegt die Zukunft der Poesie versteckt.“ Auf mich wirkt es autistisch, solipsistisch und narzißtisch, wenn behauptet wird, die Außenwelt sei durch Naturwissenschaft und Politik bestimmt und der Lyrik bliebe nur ihre private Nabelschau. Ich finde, das genaue Gegenteil ist der Fall. Im Pamphlet sage ich, daß Naturwissenschaft, Politik, Rhetorik, einfach jede Art menschlichen Denkens Metaphorik benützt und poetisches Denken in sich aufnimmt. Und daß ohne poetisches Denken, wie es zum Beispiel die Metapher verkörpert, gar keine Erkenntnis möglich wäre, denn eine Metapher ist ja nichts anderes als eine Gleichung. Das Denken in Analogien und dieses Aha-Erlebnis, daß zwei verschiedene Dinge Ähnlichkeiten aufweisen, ist die archaischste Sinnstiftung, die wir kennen. Die Lyrik war seit jeher zuständig für diesen Sprachbereich. Jetzt aber zu sagen, sie diene nur noch als privates Assoziationsstenogramm oder legitimiere sich durch Wittgenstein- oder Lacan-Zitate, ist eine Einschränkung ihrer Möglichkeiten.

Wie wirklichkeitsnah, wie distanziert muß Dichtung sein?

Das ist abhängig von Epochen und Strömungen. Die Moderne hat damals zu Recht mit Rilke und diesen Traditionen gebrochen. Jetzt blicken wir aber schon auf den Bruch der Postmoderne, wenn es heißt, daß der Rückgriff auf die Traditionen schon ziemlich lange verlorengegangen ist. Ich merke das bei vielen Kollegen. Man kann sich zwar mit ihnen über die Bachmann, Jandl und die Futuristen und Dadaisten unterhalten und dann vielleicht noch etwas über Barock, aber alles, was davor und dazwischen liegt, ist absolut kein Thema. Genauso wie fremdsprachige Dichtung. Brodsky, Heaney oder Walcott wurden in Kollegenkreisen nie wirklich wahrgenommen. Ich kann das nicht erklären. Bestenfalls damit, daß sich die deutsche Lyriktradition seit jeher im Abseits entwickelt hat. Das fängt beim Minnegesang an, geht beim Barock weiter bis hin zum Expressionismus, der neben der Romantik einzigen originären deutschen Kulturleistung.

Ernst Jandl vertritt bekanntlich die Auffassung, daß Lyrik vom mündlichen Vortrag lebt. Wie beurteilen Sie ein Phänomen wie Rap und den Versuch, Wort und Klang zu verbinden?

Rap ist ein schönes Beispiel dafür, daß archaische Lyrikformen nicht auszurotten sind. Reime galten bis vor kurzem als reaktionär. Wobei man dabei übersieht, daß es auch hier Tonalitäten gibt, die eher in Richtung Jazz oder Zwölftonmusik zu rücken sind: Augenreime, unreine Reime, grammatikalische Reime, Konsonanzen. Aber auch der klassische Reim ist nicht umzubringen, das merke ich bei Robert Gernhardt, der eine pointierte Form des Umgangs mit dem Reim pflegt. Oder bei Gedichten von Inger Christensen und Joachim Sartorius. Das gilt aber auch für die banalste Art des Reimens: zum Beispiel bei Werbesprüchen, die die ganze musikalische Palette der Lyrik nützen. Die Bandbreite von Lyrik ist davon abhängig, ob es eine verbindende Mitte gibt. Die kann ich nicht herbeipolemisieren. Nur die Ränder haben sich in den letzten Jahrzehnten etwas abgenützt: Nach Raoul Hausmann und Hugo Ball gibt es noch Jandl und eine Reihe von Dichtern, die Lautgedichte machen. Hundert Jahre Lautgedichte in Folge sind vielleicht etwas viel.

Wenn Sie Textvorlagen in eine saloppere, zeitgemäßere Sprache übertragen, fürchten Sie nicht, Form und Sinn so zu verändern, daß Sie dem Gedicht schaden könnten?

Die vorliegenden Übertragungen – zum Beispiel die Übersetzung der Sapphischen Gedichte – sind einfach nicht mehr adäquat, so ein gespreiztes Winckelmann- Deutsch wie: „mein vor Gram geschwellter Busen“. Das stammt von Schadewaldt, Staiger, Treu, also Altphilologen oder Germanisten. Einer meiner Kritiker spricht davon, daß bei Catull doch nur von „Bergen“ und „Buchten“ die Rede sei. Bei ihm gibt es aber auch den „aktiven“ und den „passiven Päderasten“. In den Übersetzungen steht dann meist „Sodomiten“ und „Päderasten“. Ich habe das lediglich in ein heutiges Deutsch gebracht: Der eine ist eben ein „Schwanzlutscher“ und der andere ein „Arschficker“. Da ist nichts draufgesetzt. Ich habe keinen Jargon benutzt, sondern versucht, in ein hartes, präzises Deutsch zu übertragen. Hinter der Kritik daran steht die Vorstellung, daß die Lyrik, gerade die der klassischen Antike, etwas Erhabenes vermitteln soll. Aber es gibt dort genauso Spott, Aggression, Verhöhnung. Der Kanon der Übersetzungen der Klassik zeigt sich äußerst prüde und ist damit auch nicht textgetreu. „Was ist mir auf das Herz gefallen“ mag eine philologisch korrekte Übertragung sein. Aber mit meinem Verständnis von Dichtung hat das nichts zu tun.

Immer mehr Schriftsteller sind akademisch vorgebildet. Auch Sie haben vor kurzem habilitiert. Wo – zwischen Originalgenie und Poeta doctus – steht der Dichter heute?

In meinen Augen gibt es eine viel zu große Mythologisierung des Dichters. Dichtung ist Handwerk, das man nicht verklären muß. Es ist sehr schwer, etwas Schönes zu machen. Der Literaturbetrieb macht es einem nicht leicht, weil man ständig auf Selbstinszenierung angewiesen sein müßte. Man bräuchte eine Fassade. Ich schreibe gern Gedichte, bin aber deswegen kein geborener Exhibitionist, der gerne vor Publikum steht. Ich habe auch keine Ambitionen, die deutsche Literaturgeschichte zu verändern. Mich interessiert nur, ein schönes Gedicht zu schreiben. Ich sehe die Anthologie und die poetologischen Essays als eine Art Gesellenstück mit einer gewissen Brückenfunktion, um wieder an etwas anknüpfen zu können, was zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Aber es machte mir auch einfach Spaß, wie in einem Maskenspiel an einem Tag ein irischer Mönch, an einem anderen ein arabischer Nomadendichter zu sein. Und dabei das schelmische Gefühl zu haben, daß die Dichter hinter einem stehen und sagen: Das hast du ganz nett gemacht, probier doch noch ein bißchen weiter.

Authentizität gilt in der modernen Mediengesellschaft als brüchige Kategorie. Suchen Sie im Abtauchen in diese poetischen Welten, dieses Defizit auszugleichen?

Nein. Authentizität ist in einem realen Leben nicht verlorengegangen. Sie ist in einem poetischen Sinn das Maß an Enthusiasmus. Auch wieder ein griechischer Begriff: „Voll des Gottes, der Musen, der guten und schlechten Dämonen zu sein“, eine Art von Neugier und persönlichem Einsatz, den ich mitbringe. Eine Kategorie der Intensität des Lebens. Brodsky sprach über das Gedicht als „gedanklicher Teilchenbeschleuniger“, der schneller und komprimierter Wirklichkeit auf den Punkt zu bringen weiß als Prosa. Man schreibt Gedichte doch in einem Akt des Drangs und nicht der Bedrängnis.

Literatur ist nur der Versuch, aus willkürlichen Anordnungen von Dingen Muster herauszulesen und sinnstiftend zu verbinden. Das Schöne an einem Buch ist, daß jede Seite mit einer anderen korrespondiert, während im wirklichen Leben die Verbindungen sehr viel zufälliger und absurder sind.

Wie siehen Sie dann Realismuskonzepte, wie sie etwa Burkhard Spinnen oder Andreas Mand in der Beschreibung unmittelbarer sozialer Umgebung umzusetzen versuchen?

Alles, was sich als Zivilisationsbeschreibung und -kritik versteht, ist letztlich aus zweiter Hand. Die Milch, das Brot, das Haus, das Gehalt – alles kommt aus zweiter Hand. Poesie dagegen beschäftigt sich immer mit den Grundgegebenheiten des Lebens. Und diese können sich in scheinbar exotischen Räumen ebensogut zeigen wie in einem Reihenhaus. Das eine trägt so viel Realismus in sich wie das andere. Der Realismus von Peter Turrini oder Franz Xaver Kroetz hat absolut seine Berechtigung. Letztlich scheint mir das auch kein Widerspruch zu sein. Es geht um die Aneignung von Wirklichkeit und um das Zurückschrau

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ben des Selbst, um mehr Welt zur Sprache kommen zu lassen.

Haben Sie zuweilen die Befürchtung, daß durch Ihre Übersetzertätigkeit „fremdes“ Gedankengut in Ihre eigenen Texte einfließt?

Nie. Originalität ist eine Erfindung der Neuzeit. Catull hat Sappho übersetzt, ohne das darunterzuschreiben, hat vielleicht eine Strophe dazugedichtet oder auch nicht. T.S.Eliot hat einmal gesagt, der Unterschied zwischen einem mittelmäßigen und einem guten Dichter liege darin, daß der mittelmäßige nur von anderen borge, während ein guter Dichter einfach klaue. Enzensberger hat das ähnlich formuliert. Und es trifft auch zu. Da Gedichte meist nur von Wein, Weib, Natur, Leben und Tod sprechen, ist der Themenkreis vorgegeben.

Die Laudatio von Günter Grass auf Yașar Kemal und seine Bemerkungen zur Asylpraxis in Deutschland haben ihm Beifall und Kritik eingetragen. Wie steht für Sie der Autor im politischen Raum?

Literatur hat mit viel Essentiellerem zu tun als Politik. Weil Literatur Denkräume schafft, die frei sind, und sie damit einen Humanismus verkörpert, der eigenständig ist. Das heißt aber nicht, daß nicht auch Literaten intelligente Sachen zur Politik sagen können. Die Themen, die Grass anspricht, finde ich wichtig und interessant, nur greift das auf einer anderen Ebene. Politische und literarische Diskussionen laufen auf unterschiedlichen Ebenen ab. Ich will das für mich trennen, es gibt zu viel schlechte Beispiele wie Pound, Céline, Hamsun. Die Literatur macht Widersprüche denkbar und will Mehrdeutigkeiten einfangen, Politik ist dagegen der Versuch, aus diesen Gegebenheiten eindeutige Positionen zu machen. Im Fall von Handke ist die Diskussion an jene Grenze gestoßen, an der Literatur und Politik ineinander verstrickt sind.

Ihre Abneigung gegenüber dem Literaturbetrieb ist bekannt. Wie erleben Sie die zunehmende Bekanntheit?

Mir ist klar, daß man genauso schnell wieder unten ist, wie man oben war. Es ist ein Spiel mit Projektionen, das man über sich ergehen lassen muß. Dahinter stehen letztlich Idealisierungen, die im Autor immer auch eine Autorität sehen wollen. Als wären Schriftsteller Menschen, die genau wüßten, worum sich das Leben dreht. Ich kann nur sagen, ich habe absolut keine Ahnung, worum sich das Leben dreht, aber das ist genau der Antrieb, der mich am Schreiben hält. Ich versuche es herauszufinden und dieses Rätsel auch sinnlich darzustellen. Interview: Thomas Kraft