Zwischen den Rillen
: Tschüß, Geheimwissen!

■ Verzweigte Popstammbäume, komplizierte Filiationen: Major Force und Kid Loco

Popmusikalische Geheimwissensträger haben es nicht leicht. Sie sammeln akribisch Platten und Lesematerial, was sich dann nach Jahren der Mühe in Historien übersetzen läßt, von denen normale Konsumenten noch nicht einmal etwas ahnen. Weil es aber immer um mehr geht als nur Musik, kann man über dem Gesammelten wissend lächeln und schweigen (Modell Pop-Anthroposoph), oder zu gegebenem Moment einen Vortrag darüber halten (Modell Pop-Dozent).

Und dann gibt es Typen wie James Lavelle vom Londoner Label Mo Wax. Der veröffentlicht, dank Connections hier und da, musikalisches Material, von denen vielleicht sogar einige der oben erwähnten Modelle nur vom Hörensagen wußten. Einfach so. Und damit verdient er dann auch noch viel Geld. Jetzt hat er wieder zugeschlagen und mit Major Forces „The Original Art-Form“ eine Compilation herausgebracht, deren personelle und musikhistorische Verzweigungen den Stammbaum des britischen Königshauses geradezu stringent erscheinen lassen. Prompt mehren sich die Stimmen, die die Zeit für reif halten, Major Force den gebührenden Platz in der Dancefloor-History zuzuweisen.

Die Geschichte geht ungefähr so: Anno 1987 gründeten Toshio Nakanishi, Masayuki Kudo, Tagaki Kan, Hiroshi Fujiwara und ein Mann namens Gota in Japan das Label Major Force. Nakanishi war zuvor Mitglied der Plastics gewesen, einer New Wave/Pop-Band, die mit den B52's und den Talking Heads unten war. Das Konzept für Major Force lautete aber anders und neu, nämlich HipHop im weitesten Sinne. Soweit wie HipHop eben möglich ist, wenn man aus der Tokioter Kunstszene anstatt aus der Bronx kommt. Was sich, gerade in bezug auf Klischees, die gegenüber japanischen Künstlern und Konsumenten vorherrschen, wie ein recht aussichtsloses Unterfangen anhört, hatte schnell großen Erfolg – nicht so sehr in Verkaufszahlen, sondern als stilistischer Breakthrough, der vor allem die britische Dance-Szene maßgeblich beeinflußt hat. Die japanische Variante von HipHop bedeutete für Major Force, vor allem weitgehend auf Lyrics zu verzichten und poppigere House-, Dub- und später auch Easy-Listening-Elemente in die Tracks einzuweben. Was daraus logischerweise folgte, beabsichtigt oder nicht, waren die ersten Club- und Dancefloor-Knaller.

Unterdessen war man mit den Beastie Boys auf Tour gewesen, der amerikanischen Band, die ebenfalls HipHop als Interpretationsgrundlage für einen eigenen Sound benutzte. Und plötzlich konnte sich das Major-Force-Team vor begeisterten Anhängern wie DJ Towa Tei von Deee-Lite u.a. nicht mehr retten. Produzent Gota verließ Major Force, um kurz darauf für „Keep On Moving“ von Soul II Soul die Drumpatterns zu programmieren. Hiroshi Fujiwara gründete in London das Streetwear-Label Good Enough. Toshio Nakanishi brachte die ersten Chanel-Bootleg-T-Shirts in Umlauf und begründete damit den sogenannten Buffalo-Style. Genau diese Posse besingt im übrigen Neneh Cherry in ihrem Lied „Buffalo Stance“.

Das alles und noch viel mehr wird zutage kommen, wenn auch die Major-Force-Tracks von 1989–1993 auf einer praktischen Doppel-CD geliefert werden können, anstatt daß man sich nach limitierten Auflagen die Hacken ablaufen muß. Tschüß, Geheimwissen!

Ganz andere Zeit (heute), ganz anderer Ort (Paris) – und trotzdem: Schlägt man einen Bogen von Major Force über die frühe britische Danceszene hin zu dem, was dann später TripHop genannt wurde, landet man in der Jetztzeit beim Genre called Downtempo, besser vieleicht Mellow Beats – und damit auch bei Kid Loco allias Jean- Yves Prieur. Doch halten wir uns nicht zu sehr bei den nominalen Zuordnungen von neuerer Musik auf, zu schnell werden Schubladen geschlossen, aus denen es dann kein Entrinnen mehr gibt und die dann irgendwann alles und nichts bedeuten (siehe auch TripHop). Wichtiger ist es, die Geschichte im Hinterkopf zu behalten. Nach allem Gerappel und Gezappel, Gebreake und Gebeate schwebt da nämlich plötzlich ein Album durch die Räume, das „A Grand Love Story“ heißt – und sich auch wirklich so anhört, auf elektronisch, versteht sich.

Auf einmal hat es sich wieder eingeschlichen, nachdem es die letzten Jahre schmollend in der Ecke ausharren mußte: das große Gefühl. Klar hat „A Grand Love Story“ auch so seine Sphären, aber das Album ist ganz weit davon entfernt, unter der Kategorie Ambient lediglich verstrahlten Clubbern als Chill-out-Sound dienlich sein zu können. Im Gegensatz zu vielen Produktionen, die die entspanntere Seite elektronischer Musik abdecken wollen, finden sich hier die tiefen, schönen, langsamen Beats. Der Sound hat einen Unterleib, ist sexy und körperlich.

Wem das nicht reicht, der kann sich noch in Zitatensuche verlieren, auf den Spuren von Funk, der Stimme von Katrina Mitchell von den Pastels oder 80er-Jahre-Pop-Gitarren. Aber vergeßt nicht: Wir befinden uns immer noch in Frankreich, von wo aus auch im nächsten Jahr viel Material zum Verlieben kommen wird oder, wie Kid Loco sagt: „Love Is The Voice Of Music!“ Seufz. Heike Blümner

Major Force: „The Original Art-Form“ (Mo Wax/Motor)

Kid Loco: „A Grand Love Story“ (Yellow Prod./Goore)