Plötzlich lag in Maries Haus eine Leiche

Am Sonntag endet in Haiti das Mandat der UN-Mission. Die Blauhelme ziehen ab, eine funktionierende Polizei gibt es aber nicht, und so herrscht in den verarmten Dörfern des Karibikstaats wohl einfach wieder Lynchjustiz  ■ Aus Haiti Bert Hoffmann

Was Haiti unter der Diktatur der Duvaliers hatte und was seitdem zum Glück vorbei ist, das wissen die Haitianer. Nicht so genau wissen sie, was sie jetzt haben. Zivile, demokratisch gewählte Autoritäten, sicherlich. Aber das sagt sich leichter, als es ist.

Marie Gerda Colas ist gewähltes Oberhaupt in einer der rund 500 Gemeindesektionen, in die das ländliche Haiti unterteilt ist, ein Gebiet im Südwesten des Landes, geprägt durch die typischen, weitläufigen Streusiedlungen in einer kargen Berglandschaft. Die nächste größere Stadt, Les Cayes, liegt mehrere, beschwerliche Stunden entfernt. Marie Gerda Colas ist die Demokratie vor Ort. Und zu sagen, daß sie Probleme hat, wäre untertrieben. Letzte Woche wollte sie alles hinwerfen.

Marie Gerda Colas und rund 40 weitere Gemeinderäte hier aus dem Departement Süd haben sich in einer Schule versammelt. Die Schule ist neu gebaut: Krumme Holzpfähle halten ein Wellblechdach, grob zusammengenagelte Bretter ergeben Tische und Stühle. Für viele war es eine halbe Tagesreise. Sogar ein Senator aus dem fernen Port-au-Prince war gekommen. An die Tafel wird in großen Lettern die Tagesordnung des Treffens geschrieben. Ein Erfolg der Alphabetisierungskampagnen der letzten Jahre: Fast alle Gemeinderäte können lesen und schreiben, wenn auch oft langsam und mit Mühe. Als fachlichen Beistand hat man einen jungen Mann eingeladen, der als Jurastudent vorgestellt wird und die ganze Zeit über die „Verfassung der Republik Haiti“ nicht aus den Händen legt.

Die meisten der Versammelten waren in der Lavalas-Bewegung aktiv gewesen. Lavalas, ein kreolisches Wort, bedeutet „Erdrutsch“ – jener Erdrutsch, der in den vergangenen zehn Jahren in Haiti die Macht der Militärs und des Duvalier-Clans davongerissen hat. Der Teil dieses Erdrutschs, der Marie Gerda Colas heißt, sieht müde aus. Sie trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Fort Lauderdale Sailing Club“, makellos weiß gewaschen, eine jener Secondhand-Klamotten aus den Verinigten Staaten, wie sie inzwischen dreiviertel des haitianischen Kleidungsmarkts ausmachen.

69 Gemeinderäte hat das Departement Süd, dazu je zwei Stellvertreter, das macht 207. Darunter sind ganze sechs Frauen. Marie Gerda Colas ist eine energische Person, sonst wäre sie kaum zu ihrem Amt gekommen. Nur reicht das allein nicht aus, um so etwas wie das Gewaltmonopol eines demokratischen Staates durchzusetzen.

Vor ein paar Tagen, berichtet sie der Versammlung, kam ein Mann aus dem Ort zu ihr ins Haus gerannt, um bei ihr Zuflucht zu suchen. Es folgt eine schreckliche Geschichte: Eine Familie aus dem gleichen Dorf beschuldigte den Mann des Mordes an einem ihrer Verwandten und wollte ihn lynchen. Die Gemeinderätin weiß bis heute nicht, ob der Mann in ihrem Haus tatsächlich der Mörder war. Aber in der Demokratie, für die sie gekämpft hat und deren oberste Repräsentantin im Dorf sie sein soll, ist das ein Fall für Polizei und Justiz, nicht für die Rache der Verwandten. Nur gibt es in der Gemeinde von Marie Gerda Colas keine Polizei, weil es in Haiti nur in den Städten eine Polizei gibt, auf dem Land aber nirgends.

Früher gab es die auch nicht. Aber der Diktatur Duvaliers im Staate entsprach die Diktatur des Chef de Section in jeder Gemeinde. Dieser Chef de Section war Militär, zumeist in Personalunion auch Führer der örtlichen Tontons macoutes, der gefürchteten Terrortrupps des Regimes. Der hätte in so einem Fall mit der Waffe in der Hand Ordnung geschaffen. Beziehungsweise was auch immer er für Ordnung hielt. Wie viele Tote in 28 Jahren Duvalier-Diktatur auf das Konto der Chefs de Sections gingen, kann niemand genau sagen.

Marie Gerda Colas hat keine Waffe, die sie ziehen könnte. Immerhin gelingt es ihr, die aufgebrachte Familie draußen zu halten. Doch was weiter? Ein Telefon hat sie zwar beantragt, gleich als sie Gemeinderätin wurde, doch die Telefongesellschaft macht keine Anstalten, eine Leitung bis hier in die Berge zu legen.

Nach mehreren Stunden, als die Situation beruhigt scheint, geht sie zur Polizei in die Stadt Les Cayes hinunter. Sie schließt den Mann in ihrem Haus ein und sagt den Nachbarn Bescheid. Als sie zurückkommt, liegt eine Leiche in ihrem Wohnraum, mit 18 Messer- und Machetenhieben zugerichtet. Der herbeigerufene Friedensrichter stellt seine Untersuchungen schnell ein. Alle sagen, erklärt er, daß es die ganze Bevölkerung gewesen sei, da könne er nichts machen.

Wenn von Haitis Polizei die Rede ist, dann herrschen auch im Hauptquartier der UN-Truppen in Port-au-Prince sorgenvolle Stirnfalten vor. Wer hier mit einem spricht, der redet von Amts wegen natürlich von dem Erfolg, den die jetzt zu Ende gehende UN-Mission bedeutet hat: Daß Frieden im Land herrscht, daß die politischen Freiheiten gewahrt sind, daß neue demokratische Institutionen aufgebaut werden. Man hat aus den Fehlern früherer UN-Missionen gelernt und die Medienarbeit von Anfang an die Zivilisten machen lassen.

Patricia Tomé, eine Kanadierin, ist Presseattaché, und sie zeichnet keine Idylle, spricht bereitwillig auch von den Schwierigkeiten, sagt, daß nichts von heute auf morgen geht und alles seine Zeit braucht. Der Aufbau demokratischer Ordnungskräfte, eine schwierige, eine langwierige Aufgabe. Die Stirn geht in Falten. Am Anfang, sagt sie, hätten die neu rekrutierten Polizisten sich nicht nach Cité Soleil, dem größte Armenviertel der Hauptstadt, hinein gewagt ohne die Begleitung der weißen Jeeps mit der blauen Fahne und den schweren Waffen. Und jetzt? Doch, doch, es hat viele Fortschritte gegeben. Beispiele erfolgreicher Operationen der neuen haitianischen Polizei folgen. Die Falten auf der Stirn bleiben.

Am 30. November endet das Mandat der UN-Truppen. Beschluß ist Beschluß, aber eigentlich, von der Situation in Haiti aus gesehen, ist das viel zu früh, findet Patricia Tomé. Aber andererseits: Die Ausbildung der haitianischen Polizei durch Ausländer wird weitergehen, über bilaterale Verträge mit Kanada, Frankreich und anderen Staaten, die vorher im Rahmen der UN aktiv waren. Rund 500 ausländische Polizisten werden wohl weiter auf dem Posten bleiben.

Die Jeeps der UN werden aus dem Straßenbild verschwinden, aber die US Support Group, der Militärstützpunkt der US-Armee, wird bleiben, auch dies ist gerade in einem bilateralen Vertrag bestätigt und verlängert worden. Die Support Group ist im haitianischen Alltag nicht präsent. Aber jeder weiß, daß diese 400 Soldaten starke US-Truppe eine konkurrenzlose militärische Macht im Land darstellt, wenn es drauf ankommen sollte.

Patricia Tomé redet über die Aufgaben, die von den im Land bleibenden Polizeiausbildern weitergeführt werden sollen. Ein zentraler Punkt ist natürlich die Präsidentengarde, sagt sie. Der zweite ist die Stärkung der Cimo. Die Cimo, das ist die im Januar 1996 gegründete schnelle Eingreiftruppe in schwarzen Uniformen und martialischem Outfit. Sie hoffe nur, sagt die Pressesprecherin, daß in Zukunft ausreichend Gelder bereitgestellt werden, um die Cimo vernünftig auszurüsten, auch was Kommunikation und Transport angeht. Ein neuer Helikopter sei unbedingt erforderlich. In dem Journal der UN-Mission, von dem sie zum Abschied mehrere Ausgaben verteilt, ist der Bericht über eine UN-angeleitete Übung dieser Elitetruppe nachzulesen. Szenario ist der Einsatz gegen manifestants en colère, gegen wütende Demonstranten.

Wovon bei dem ganzen Besuch im UN-Hauptquartier keine Rede war: von der Gemeindepolizei für die ländlichen Gemeinden Haitis, die die haitianische Verfassung vorsieht und die bis heute nicht existiert. Sie sollte es genau da geben, wo sie Marie Gerda Colas gefehlt hat: in jeder der 500 Gemeindesektionen auf dem Land, untergeordnet der zivilen Autorität der gewählten Gemeinderäte.

Solange Marie Gerda Colas erzählt, hören die anderen Gemeinderäte still zu. Danach lassen sie ihrer aufgestauten Frustration Luft. Sicher, so einen brutalen Fall hat es bisher nur ganz selten gegeben. Aber alle wissen, daß sie in einer derartigen Situation genauso hilflos wären.

Seit der Rückkehr Haitis zur Demokratie 1994 haben internationale Organisationen allein unter dem Dach der Demokratieförderung mehr als 200 Millionen US- Dollar an Hilfsgeldern für Haiti abgerechnet. Die Gemeindepolizei war dabei keine Priorität. Aber sie war auch keine Priorität für die haitianische Regierung, und vor allem das ist es, was die versammelten Gemeinderäte hier in der Provinz in Rage bringt.

Die Politiker in Port-au-Prince halten sich für das ganze Land! Sie sind alle korrupt! Sie geben den Gemeinden kein eigenes Budget, so daß wir Gemeinderäte als die Deppen dastehen, weil wir nichts machen können! Nicht einmal ein Gehalt hatte die Zentralregierung den Gemeinderäten zahlen wollen! Wir haben protestiert und uns in einer nationalen Vereinigung organisiert, sagt einer. Und wir haben es geschafft hat, daß sie und endlich normal bezahlen! Um alles, sagt er, müssen wir kämpfen.

Marie Gerda Colas genießt großes Ansehen bei ihren Amtskollegen. Sogar so viel, daß sie sie zur Schatzmeisterin ihrer „Nationalen Vereinigung der Demokratischen Gemeinderäte Haitis“ gewählt haben – angesichts der ausufernden Korruption im Land ein großer Vertrauensbeweis. Aber als sie den gelynchten Mann in ihrem Haus sah und die Untätigkeit des Richters und ihre eigene Machtlosigkeit, hatte sie fürs erste genug gehabt vom Kämpfen. Sie wollte von ihrem Amt als Gemeinderätin zurückzutreten. Und ganz sicher wollte sie bei dem Treffen in der Schule nicht noch einmal für den Posten des Schatzmeisters in der nationalen Vereinigung kandidieren. Zuviel Politik im Leben ist nicht gut, sagt Marie Gerda Colas, und lacht.

Es kam anders. Sicherlich, sagt einer, eigentlich brauchen wir eine richtige Polizei in der Gemeinde. Aber zumindest müssen wir die Polizei in der nächsten Stadt anrufen können, wenn was passiert! Und, sagt ein anderer, uns untereinander verständigen können! Wenn sie keine Telefonleitungen in die Dörfer legen, dann also Funkgeräte.

Eine Idee nimmt Gestalt an. Jeder Gemeinderat muß ein Funkgerät kriegen! Irgend jemand wirft Zahlen in den Raum, was das kosten könnte. Die Vereinten Nationen oder US-Aid oder die anderen internationalen Organisationen, die haben doch Geld! Man muß einen Projektentwurf machen und bei denen einreichen!

Marie Gerda Colas ist dabei. Als Schatzmeisterin. Man muß es wenigstens versuchen.