Erinnerungsverortung

Es wird Advent, und wieder kommt der Jahresrückblickszwang über Blätter und Bildschirme. Warum nur? Fragt uns  ■ Christoph Schultheis

„Im Reich des Kitsches herrscht die Diktatur des Herzens. Das durch den Kitsch hervorgerufene Gefühl muß allerdings so beschaffen sein, daß es die Massen teilen können. Der Kitsch ruft zwei nebeneinander fließende Tränen hervor. Die erste Träne besagt: wie schön sind doch auf dem Rasen rennende Kinder! Die zweite Träne besagt: Wie schön ist es doch, gemeinsam mit der ganzen Menschheit beim Anblick von auf dem Rasen rennenden Kindern gerührt zu sein! Erst die zweite Träne macht den Kitsch zum Kitsch.“

Was Milan Kundera da 1984 in seiner ansonsten recht unerträglichen „Leichtigkeit des Seins“ über Kitsch und auf dem Rasen rennende Kinder räsonnierte, gilt nicht minder für den Jahresrückblick: Auch er läßt das besagte Tränenpaar fließen. Gerührt von der Erinnerung rollt die erste und hinterdrein schluchzt die zweite: Wie schön ist es doch, gemeinsam mit der ganzen Menschkeit gerührt zu sein.

Die „Diktatur des Herzens“ herrscht eben auch im Reich der Jahresrückblicke. Von der „Königin der Herzen“ ganz zu schweigen.

Da konnten die Moralapo(p)stel von U 2 noch so altklug „Nothing changes on New Year's Day!“ greinen; wenn sich das Jahr gen Ende neigt, dann kriegen wir „Pippi inne Augen“ (wie man in Wanne-Eickeler Imbißbuden zu sagen pflegt). Nein, da kann sich die Welt von Zeitzone zu Zeitzone drehen und durch die Jahreszeiten kippeln, wie sie will: Öffentliches Erinnern folgt nun mal unserer Zeitrechnung und Atomzeitskala. Tagesschau und Tageszeitungen bleiben Tages-Schau und -Zeitungen, Wochen- und Monatsmagazinen geht es entsprechend. Und der Jahresrückblick verdichtet all das, was Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat in Schauen, Zeitungen und Magazinen abgehandelt wird, auf 100 Minuten oder 300 Seiten gute Unterhaltung (siehe Überblickskasten). Darüber hinaus ist nichts. (Beziehungsweise nur noch Einzel- und Individualerinnerungen und -jubiläen.) Das Jahrzehnt jedenfalls existiert nur noch als stets definitionsbedürftiges „-ziger“- Suffix, das „Jahrhundert“ als Präfix fürs Oderhochwasser – und Jahrtausendrückblicke sind nur was für Historiographen und Kulturpessimisten.

Doch wenn die Zeit der Jahresrückblicke kommt, dann wird eingeschaltet und umgeblättert; und friedlich vereint staunen Bild-Leser und Bildungsbürger: „Gott ja! So war's.“

Denn im Jahresrückblick ist nicht, wie sonst, für jeden etwas (oder nichts) dabei. Die Rückschau duldet weder Zielgruppe noch Verweigerung. Nein, beim Jahresrückblick ist ausnahmslos alles für ausnahmslos jeden. Allgemeinwissen- Update und Erinnerungsverortungsritual ist er, bei dem weltgeschichtliche Wichtigkeit eine eher untergeordnete Rolle spielt: Wen Michael Jacksons Prince Michael jr. (bzw. Paris Michael Katherine) nie interessiert hat und der Versace- Mord nicht bekümmerte, der wird sich dennoch daran erinnern, wenn die TV- und Printredaktionen die Vergangenheit recyclen. Und würde, sagen wir, Hongkong in diesem Jahr übergangen, dann würde sich auch der Jahresrückblickskonsument übergangen fühlen.

Viel wichtiger jedoch als Vollständigkeit sind kollektives Erinnern und Schlüsselreize: Di & Dodi – Pathfinder – Tamagotchi – Schifffahrt – Dolly – Mir – Elchtest – Hohenwutzen – magentagelbe Trikots – ... Von Lee Tac Toe bis Tic Tac Ricky ist alles dabei, was Schlagzeile machte. Und daß die Arbeitslosenzahlen im Februar erstmalig die 4,6 Millionen überschritten haben? Das liegt schließlich bereits Monate zurück und entlockt beim zweiten Mal niemandem mehr eine Träne.

Im Rückblick ist eben alles Boulevard, durch und durch versöhnliches Infotainment. Multimedial hatten sich doch schon bei den Ereignissen des Jahres, bei Di & Ricky und Oderleid in diesem Jahr seriös Gedrucktes und yellow Gepresstes die Hand gereicht. Das Süddeutsche Zeitung Magazin hatte Hillu, der Spiegel hatte Di gleich mehrfach und die „Tagesthemen“ hatten Ricky, weil sie Lees Witwenschaft einst verpaßten. Das gibt den Jahresrückblicken Konjunktur. Erst das Oszillieren der Ereignisse, dann das Rückblicken versöhnt alles mit jedem. Und im Reich des Versöhnlichkeit herrscht neben der Diktatur des Herzens auch die der Quoten und Auflagen.

Wen kümmert es da, daß sich Bilder und Geschichten gleich haufenweise doppeln und ver-x-fachen? Die vier großen TV- Stationen beispielsweise kümmert's wenig. Sie gehen, wenn das zweite Lichtlein brennt, im Wochenrhythmus auf Sendung. Und wahlweise Ex-„Menschen“-Moderator Günther Jauch, Ex-„Kerner“ J. B. Kerner, Turm-Talker Erich Böhme und Ulrich Wickert werden versuchen, aus einem Kessel bunter Erinnerung Show zu machen – mal mit, mal ohne Ausrufezeichen hinter der Jahreszahl, mal mit, mal ohne Jan Ulrich, oder Schumi, oder Herzog, oder George. Und erst die Magazine: Max, die letzte überlebende Zeitgeistzeitschrift, hat das Jahr schon Anfang November für rückblicksfähig erklärt (und prompt die A-Klasse verpennt); Der Focus weiß, was er der Infoelite an elitären Infos schuldig ist und wartet schön bis Nr. 52; selbst Stern und Spiegel sind auf den Geschmack gekommen und beschenken die Nation in diesem Jahr erstmalig mit Hochglanzsonderheften für die besinnlichen Stunden unterm Christbaum. War einst das Jahresrückblicksheft eine Verlegenheitstat in Wochenmagazinredaktionen, die billig das Loch auffüllen half, das Weihnachtsurlaub, das plötzlich auftauchende 53. Heft im Jahreskreis und die ereignisarmen Tage immer wieder rissen, so ist das in den letzten Jahren plötzlich anders geworden: Schon im Sommer werden Jahresrücklicke beworben, schon im November vorgestellt.

Der Jahresrückblick macht aus der Erinnerung die Erinnerung an den Jahresrückblick. Er sei „Erfahrung aus zweiter Hand, vorgetäuschte Empfindung, (...) der Inbegriff alles Unechten im Leben unserer Zeit.“ Sagt der Kunstkritiker Clement Greenberg. Über Kitsch.

Das Jahr ist noch nicht aus, und alle 24 Fenster sind schon offen. Wie ein Adventskalender, bei dem die Schokolädchen schon am 1. Dezember aufgegessen sind, sind auch verfrühte mediale Jahresrückblicke. (Fotos: AP (16), Reuters (8), RCA (3)