Auf Verjüngungskur

Das bayerische Kurstädtchen Bad Reichenhall oder: Mit frischer Brise durch die Kurkrise. Mit neuen Angeboten sollen auch jüngere Gäste geworben werden  ■ Von David Fuchs

Sie haßte die Menschen, und die Menschen haßten sie. Besonders die Christen. Meistens reichte sie ihnen ein giftiges Gebräu und sagte: „Stärkt euch mit einem frischen Trunk. Ich gebe ihn euch um Gottes Lohn.“ Anderen rollte sie von ihrer Residenz in den Bergen schwere Steine entgegen. „Wieder einer weniger“, freute sie sich, hämisch grinsend. Doch irgendwann kam ein Christ und hielt ihr ein Kreuz entgegen. Ein lautes Donnern tönte durch die Berge. Sie schleuderte zu Boden. Noch heute sieht man die Hexe am Predigtstuhl, hoch oben über Bad Reichenhall: versteinert, das Kinn widerwärtig nach oben gestreckt. Und irgendwie ist sie eine Art warnendes Naturdenkmal: Es ist, als zeige sie, daß Menschen, die den Reichenhallern nichts Gutes bringen, böse bestraft werden.

Seit Monaten ist da zum Beispiel Horst Seehofer, der vielen Bad Reichenhallern mit der Gesundheitsreform das Leben zur Hölle reformiert. Man muß nur den Schaffa-Bauer fragen. „Seehofer“, sagt der Schaffa-Bauer, „wird hier noch vielen das Genick brechen.“ Der 75jährige Mann mit dem schlohweißen Haar und der gesunden Gesichtsfarbe heißt eigentlich Johann Bauernegger, aber in Bad Reichenhall kennt ihn kaum jemand unter seinem richtigen Namen. Der Schaffa-Bauer, das ist der letzte Moorbauer der Stadt. Seit 1957 beliefert er die Kliniken am Kurpark mit dem heilenden Schlamm, den er auf seinem Land an der österreichischen Grenze mit seinem Sohn Stephan abbaut. Vor einiger Zeit hatte er noch vier Konkurrenten, doch die haben den Bettel bereits hingeworfen. Er selbst, sagt der Schaffa- Bauer, bringe wöchentlich nur noch vier Fuhren Moor zu den Kliniken am Kurpark. Früher seien es sechs am Tag gewesen.

Kurkrise? Der flüchtig flanierende Besucher bekommt davon nicht viel mit. In den Kastanienalleen leuchtet das goldene Laub vor den Fassaden edelster Jugendstilvillen. Die Herbstsonne spiegelt sich in den Fenstern hübscher Erker und kleiner Türme wider. Zwar sind im Kurpark, „der größten Nichtraucherzone Reichenhalls“, wie es in einem Prospekt heißt, die weißen Stühle schon seit einigen Tagen vor der Winterwitterung geschützt, doch am Gradierwerk herrscht Betrieb: An der vom Wind abgewandten Seite des fast 200 Meter langen Freiinhalatoriums laufen zahlreiche Kururlauber eine halbe Stunde auf und ab. Sie atmen dabei langsam und ruhig durch die Nase. So, wie es auf einer Holztafel empfohlen wird.

Die harmonische Stimmung trügt. Wie Metastasen im Körper frißt sich die Gesundheitsreform in Bad Reichenhalls Kurbetrieben voran. Der fünfseitige Lagebericht von Kurdirektor Thorsten Wille macht das deutlich: Jede Klinik ist mit Kurzarbeit oder Entlassungen beschäftigt. Zum Beispiel das Privatsanatorium Dr. Mack. Dessen Inhaber Klaus Mack sagt: „Wir haben 50 Prozent weniger Kurgäste als im vergangenen Jahr. Unser Verlust bis einschließlich September beträgt 250.000 Mark.“ Im kommenden Monat und im Januar müssen sich seine Angestellten arbeitslos melden. Bad Reichenhalls Banken verzichten bei einigen Häusern bereits auf die anfallenden Kreditzinsen. Und Oberbürgermeister Wolfgang Heitmeier rechnet heuer mit Mindereinnahmen von 1,5 Millionen Mark. 1996 zählte man noch 85.000 Kurgäste in Bad Reichenhall, 1997 werden es nur noch 54.000 sein.

„Das Image der Kur ist derartig schlecht“, sagt ein Hotelier, „daß sich kein Arbeitnehmer mehr traut, einen Antrag zu stellen. Jeder befürchtet, daß der Chef es ihm krumm nimmt. Das ist eine der schlimmsten Folgen der Gesundheitsreform.“ Gleichwohl verfallen die Reichenhaller nicht in kollektive Larmoyanz. Hier geht man neue Wege. „In zehn Jahren“, sagt Kurdirektor Thorsten Wille, „werden wir den Altersdurchschnitt unserer Gäste von jetzt sechzig auf fünfzig Jahre gesenkt haben.“ Wille möchte sich mit neuen Angeboten an gesundheitsbewußte Selbstzahler richten, auch aus dem Ausland sollen Gäste kommen. Gabriele Deml, General Managerin beim „Tourist Office“ von Bad Reichenhall, ist bereits durch die USA und Israel gereist, um eine neue Klientel zu locken. „Wir versprechen uns sehr viel vom israelischen Markt“, sagt sie. Das Axelmannstein sei schon immer eine Adresse für wohlhabende jüdische Kururlauber gewesen.

Zugpferde der Stadt sind junge Unternehmen. Zum Beispiel der Club „Montee Rafting + Sport Bad Reichenhall“. Gleitschirm fliegen vom 1.600 Meter hohen Predigtstuhl ist nur ein Angebot des Clubs. Andere Sporturlauber stürzen sich in Neoprenanzügen mit Sturzhelmen zehn Meter tief in Wasserfallgumpen. Oder kleben an Steilwänden über tosenden Wildbächen. Die Kur GmbH bezieht den Sporting-Club in eigene Offerten ein. Dazu gehört etwa der sogenannte Boxen-Stopp. Zielgruppe sind männliche wie weibliche Führungskräfte. Mit Bewegungstherapien wie Qi Gong und Motivationsseminaren zur Lebensgestaltung will man vorbeugen statt heilen. „Ein Boxen- Stopp“, sagt Thorsten Wille, „ist für ein Unternehmen billiger als der vierwöchige Ausfall eines Managers.“ Dafür sei jedoch ein Umdenken in deutschen Firmen vonnöten. Vor allem mit dem Sportangebot der Stadt möchte man dem wenige Kilometer entfernten Österreich Konkurrenz machen. Der Gesundheitsaspekt soll aber weiterhin im Vordergrund stehen. Zu Reichenhalls Pfründen zählen Latschenkiefer, Moor und natürlich das Salz. Bis zu fünfzig Millionen Mark wird die Stadt in den kommenden fünf Jahren in einen rundumerneuerten Kurbetrieb investieren, verspricht Oberbürgermeister Heitmeier. Auch privat wird mit Geld und Ideen Abschied vom vielfach als „Bad Leichenhall“ geschmähten Image genommen: Der Schaffa-Bauer macht nun auch in Ferienwohnungen, und das Privatsanatorium Dr. Mack bietet ab Februar chinesische Heilmethoden und Therapien gegen krankhaftes Schnarchen an.

Die von Wille angekündigte Verjüngungskur wird die Reichenhaller erfreuen. Vor allem die Jugend, für die das Café Amadeo oder die Realwirtschaft Hünn's zwei der wenigen Treffs sind, und die, wie es eine brünette Angestellte im Hotel Bavaria sagt, „jedes Wochenende aus der Rentnerstadt flüchten müssen“. Aufatmen wird schließlich auch der türkische Dönerbudenbesitzer. Tagein, tagaus steht er vor seiner Tür, krault sich verzweifelt den Oberlippenbart. Kein Kunde kommt. Aber welcher Rentner beißt schon gerne in einen Kebab, wenn ihm aus den umliegenden Restaurants der Geruch nach Braten, Sauerkraut und Knödeln in die Nase zieht? Und alte Menschen gibt es zuhauf. Wer durch die Fußgängerzone läuft, kommt sich vor wie in einer Open- air-Geriatrie. Senioren am Brunnen, Senioren im Café beim Plausch über Bandscheiben und Hüftoperationen, Senioren vor Schaufenstern und Senioren in Geschäften. Das Angebot ist entsprechend. In Glaspavillons hängen Dirndl und Goldschmuck, und der Buchladen schräg gegenüber dem Kurmittelhaus, über dessen Eingang zwei Nudisten in Stein gemeißelt sind, legt entsprechende Titel aus: „Leicht und gesund auch im Alter“ und „Lebenssaft Urin“.

Bad Reichenhall kennt andere Zeiten. Prominente Zeiten. Maximilian II. von Bayern logierte 1848 mit großem Gefolge fünf Wochen im „Curhaus Axelmannstein“. Oberschicht und Adel entdeckten die Stadt für den Sommeraufenthalt. Richard Wagner und Cosima Bülow zum Beispiel. Ebenso Reichskanzler Bismarck. Und die Mutter des Schriftstellers Elias Canetti, die sich gleich in einen Kurarzt verliebte. Als ihr Mann davon erfuhr, erlitt er eine Herzattacke und starb. „Auf den Spaziergängen“, schrieb der Dichter Ludwig Steub, „sieht man gekrönte Häupter und solche, die es zu werden wünschen, erlauchte Damen von so hohem Rang, daß uns schwindelte, wenn wir zu ihnen heraufblickten.“

An diese Zeiten wird man in Reichenhall überall erinnert. Etwa am „Alten Brothaus“, das vom 14. bis 19. Jahrhundert als „gemeinsamer Brotverkaufsladen der Reichenhaller Bäcker“ diente; auf der Gebäudefassade halten noch immer zwei knackige Buam die bajuwarische Flagge. Oder am Wittelsbacher Brunnen vor dem Rathaus: ein achteckiges Bassin, über dem die jugendliche nymphenähnliche Bavaria trohnt. Vier Löwen liegen ihr zu Füßen. Bavaria trägt Eichenzweige in ihrem Haupthaar und blickt zur Alten Saline. Seit 150 Jahren drehen sich dort die 13 Meter hohen Räder. Ununterbrochen. Tag für Tag. Sie pumpen Natursole in die Kurbetriebe der Stadt. Nach jeder Umdrehung tönt ein Glockenschlag, der dem Brunnenwart den störungsfreien Lauf meldet. „Wenn die Glocken nicht mehr zu hören sind“, sagt der Schaffa-Bauer, „dann wird es ernst in Reichenhall.“