Schnell studieren ist das große Ziel

Für die beiden Studentinnen Carola Rother (28) und Ulrike Bahr (23) findet der Uni-Protest in einer anderen Welt statt: „Das kostet wieder ein Semester.“ Die Proteste vergangener Studentengenerationen sind passé  ■ Aus Berlin Nana Brink

Das war zuviel. „Das kann ich nicht mehr ernst nehmen“, meint Carola Rother kühl und nippt am Cappuccino. Als die Berliner Psychologiestudentin im achten Semester Mitte dieser Woche von der Arbeit in die Freie Universität hetzte, rannte sie gegen „ein Hindernis“. Der Zugang zum Fachbereich in der „Rostlaube“ war verbarrikadiert, und ein Streikcafé lud zum gemütlichen Gespräch.

Der 28jährigen stand der Sinn nach einem Streitgespräch. Ob die Streikposten wüßten, was für sie auf dem Spiel stehe? Was sie das koste? Da Carola nicht als Streikbrecherin dastehen wollte – „Du kommst dir schon vor wie eine Verräterin, wenn du nicht bleibst“, zog sie frustriert wieder ab. „Wer studieren will, hat keine Chance. Hier läuft nichts mehr.“

Zumindest kein Lehrbetrieb. Auf den hingegen kann Ulrike Bahr gut verzichten. Die 23jährige Architekturstudentin der Bauhaus-Universität Weimar (BUW) absolviert momentan ihr Praktikum in einem Berliner Architekturbüro. „Überrascht“ war sie von den Fernsehbildern demonstrierender StudentInnen. „Ich habe das gar nicht so mitbekommen“, gesteht sie verlegen. Seit Tagen flitzt Ulrike über Baustellen und sammelt Eindrücke, die kein Seminar vermittelt. „Das ist eben die Realität“, erklärt die Studentin im vierten Semester und sagt, für einen Streik keine Zeit zu haben.

Keine Zeit und – kein Interesse. Während rund 40.000 Studenten am Donnerstag nach Bonn marschierten, um gegen die Hochschulmisere zu demonstrieren und mittlerweile über 50 von 230 Unis bestreikt werden, hält es die schweigende Mehrheit mit Carola und Ulrike und verweigert sich. Schätzungen zufolge beteiligen sich allenfalls zehn Prozent der insgesamt 1,8 Millionen Studierenden in Deutschland an den Aktionen.

Für Carola Rother sind Begriffe wie „studentisches Milieu“ oder „gemeinsame Sache“ hohle Phrasen. Ihr Alltag bewegt sich, abgesehen von den Vorlesungen und Bibliotheksbesuchen, abseits des Campus. Nach dem Abitur entschloß sich die Berlinerin zu einer Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin. Eigentlich wollte sie damals Romanistik studieren. Doch die Streikwelle 1988/89 schreckte sie ab: „Ich bin noch nicht mal dazu gekommen, mich zu immatrikulieren.“ Als sie vor vier Jahren anfing, Psychologie zu studieren, war die Reaktion ihrer Eltern eindeutig: Wir finanzieren nur eine Ausbildung. Da sie kein Bafög bekam, reduzierte sie ihre Arbeit an einer Sprachenschule auf 20 Stunden pro Woche.

Die Kombination Job-Studium findet Carola zwar nicht ideal, aber immerhin „behält man die Bodenhaftung“. Die smarte Endzwanzigerin legt Wert auf komfortable Lebensumstände: Da sie während der Semesterferien durcharbeitet, sind Auto und Aerobicstunden finanzierbar. Das Studium ist für Carola Mittel zum Zweck, eine Art Zusatzqualifikation. Ihr Ziel: möglichst schnell fertig werden. Ihr Traum: Eine Stelle bei einer Werbeagentur, Unternehmensberatung oder im Bereich der neuen Medien. In anderthalb Jahren will sie ihr Examen in der Tasche haben. Sollte der Streik aber weiter gehen, „verliere ich glatt ein Semester“. Verbarrikadierte Gänge im Institut stoßen bei ihr auf Unverständnis: „Damit schneiden wir uns doch nur ins eigene Fleisch.“

Auch für Ulrike Bahr findet der Streik in einer anderen Welt statt, die mit ihrer nur wenig zu tun hat. Nach dem Abitur in Erfurt und einer Tischlerlehre zog es sie nach Frankreich. Auf eigene Faust besorgte sie sich ein Praktikum bei einem Innenarchitekten in Paris. Ein Jahr lang zeichnete sie Pläne für Möbel und baute die Prototypen nach den Entwürfen des Patrons.

Sie hätte bleiben können, sagt die 23jährige, aber da gab es auch noch einen Traum: Ein Architekturstudium in Lausanne. Da die Schweizer Universität ihr deutsches Abitur nicht anerkannte, entschied sie sich zunächst für Weimar. Der „Massenbetrieb“ an der Berliner Hochschule der Künste schreckte sie ab, mehr noch als das „kleingeistige“ Weimar. Auch das Studium in Weimar ist für Ulrike nur ein Etappenziel. Die Arbeit auf den Baustellen Berlins habe ihr Denken verändert, erklärt sie: „Hier kann man lernen zu entwerfen.“ Bald geht es nach Zürich: Die dortige Universität wird Ulrike nach dem Vordiplom aufnehmen, und auch im Ausland wird ihr der elterliche Scheck sicher sein.

Daß vor allem Studenten aus den neuen Bundesländern oft „Boykottlethargie“ unterstellt wird, stört Ulrike Bahr überhaupt nicht. „Die wenigsten wissen doch, was hier läuft.“ Die Weimarer BUW mit ihren knapp 1.000 Studierenden garantiert eine relativ intime Atmosphäre und den direkten Zugang zu den Professoren. In der Anfangszeit ihres Studiums besuchte Ulrike noch die Sitzungen des Studentenrats, bis sie feststellte, „daß da ein paar Leute, die sonst nie in Seminaren zu sehen waren, in stundenlangen Debatten ihr eigenes politisches Süppchen kochen“.

Für viele Forderungen ihrer streikenden Kommilitonen haben Carola und Ulrike wenig Verständnis. Beispiel: Keine Studiengebühren – „Die hundert Mark kann man doch berappen. Das Geld hauen wir ja auch in der Kneipe auf den Kopf“, sagt Carola. Überhaupt zweifelt sie an der Ernsthaftigkeit mancher Studierender. „Wer noch im 14. Semester studiert, hat nicht begriffen, daß das Studium keine Selbsterfahrungsgruppe ist.“ Die Fremdsprachenkorrespondentin versteht ihr Studium als „Luxus, den ich irgendwann zurückzahlen muß“.

Ihre Kommilitonin Ulrike erstaunt die Naivität vieler Studenten, „die immer noch glauben, angesichts der momentanen Haushaltslage gäbe es mehr Geld“. Gegen den Moloch Massenuniversität hat sie ein simples Rezept: „Es muß Eignungsprüfungen für jeden Studiengang und Begabtenförderung geben – selbstverständlich unabhängig vom finanziellen Status der Eltern.“ Universitäres Regulativ statt freiem Zugang – für Ulrike kein Problem: „Diese Gesellschaft braucht andere Studenten als vor 30 Jahren.“

Beim Thema 68er schmunzelt die 23jährige ein wenig ahnungslos. Sicher, die Bilder habe sie „nach der Wende“ schon mal gesehen. Was die damals wollten? Achselzucken. Für die junge Frau aus Weimar sind die Zeiten des großen Aufbruchs vorbei. „Der Umbruch 1989 war das letzte große Ereignis.“ Da war sie fünfzehn und staunte über das, was auf den Straßen im Osten passierte. Heute allerdings herrsche das Individualisierungsprinzip – was Ulrike als „Herausforderung“ deutet. Die Muster von damals taugen nicht mehr: „Es gibt keine Ideale mehr, die eine Generation verbinden.“