: "Das läßt sich nicht auf fünf Seiten erklären"
■ Das "Schwarzbuch des Kommunismus", das Frankreich bewegt, ist weniger plakativ als sein Vorwort. Nicholas Werth, einer der Autoren, über zulässige und unzulässige Vergleiche
taz: Herr Werth, welchen wissenschaftlichen Sinn macht es, Toten- und Opferzahlen der verschiedenen kommunistischen Länder zu vergleichen?
Nicolas Werth: Das ist gerade das Problem. Dieser Vergleich hat gar nicht stattgefunden. Eigentlich wäre es Aufgabe des Vorworts gewesen, eine derartige Reflexion über die verschiedenen kommunistischen Erfahrungen anzustellen. Denn trotz aller Unterschiede gibt es gewisse Ähnlichkeiten zwischen der chinesischen, der kambodschanischen und der russischen Erfahrung. Das verlangt eine sehr sorgfältige Analyse. Auch ein Vergleich mit dem Nazismus war nicht Thema des Buchs.
Was haben die Bolschewiken in Moskau mit den Roten Khmer in Phnom Pen gemeinsam?
Relativ wenig. Die historische Situation ist völlig unterschiedlich. Man befindet sich nicht in derselben Phase der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Wenn es in Kambodscha soviel Gewalt gab, lag das auch daran, daß das Regime glaubte, es hätte nur sehr wenig Zeit. Meines Erachtens muß die kambodschanische Erfahrung, die auf die Ereignisse in Vietnam und China folgte, getrennt gesehen werden. Sie ist einzigartig, sehr kurz, schrecklich terroristisch.
Das Problem einer vermeintlich knappen Zeit hat sich auch für Lenin gestellt. Der wunderte sich darüber, daß seine Revolution länger hielt als die Kommune von Paris.
Ja, es gab auch bei ihm eine Art Panik, daß ihm die Dinge entgleiten würden. Aber die Bewegung bei der Leninschen Erfahrung war doch eine völlig andere – vor dem Hintergrund eines Weltkriegs, von sozialem Chaos und drohender Deregulierung einer revolutionären Gesellschaft.
Wie definieren Sie Kommunismus?
Der real existierende Kommunismus ist zuerst eine politische Diktatur. Das schließt natürlich jede Ausdrucksfreiheit aus und führt zu mehr oder weniger massiven Formen von Gewalt und Repression. Aber das heißt nicht, daß er systematisch kriminelle Formen annimmt – immer und in jedem Land. Es gibt auch Formen der Repression – Deportation, Inhaftierungen – die nicht unbedingt Massaker sind. Der Terror der Massenhinrichtungen war in der Sowjetunion auf maximal zehn Jahre beschränkt: 1918 bis 1922; dann 1930 bis 1933; dann 1937 bis 1938.
Was sind die Gemeinsamkeiten dieser Terrorwellen in der Sowjetunion?
Sie richten sich gegen die Gesellschaft. 1918 gibt es noch einen echten Widerstand. 1930 ist es eine Attacke gegen eine Gesellschaft, die sich nicht mehr wehrt. 1936 bis 1937 ist es mit 680.000 Exekutionen nach einem Quotensystem noch mal anders – es geht nicht mehr um die Deportation von Bauern oder um Hungersnöte. Es handelt sich um eine extreme Form von Gewalt.
Warum wollen Sie das nicht, wie Courtois im Vorwort, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nennen?
Das ist eine juristische Definition. Ich bin weder Jurist noch Richter – sonst könnte man auch Madagaskar 1947, wo mehrere hunderttausend Malgaches von den Franzosen massakriert wurden, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nennen.
Massenterror und Verfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen gehören auch zu den Charakteristika des Nationalsozialismus. Warum wehren Sie sich gegen den Vergleich?
Der Vergleich ist sicher legitim. Aber nachdem man ein paar ziemlich banale Dinge über die Ideologie der Ausgrenzung und Führerkulte gesagt hat, muß man anfangen weiterzuarbeiten, wie es auf seriöse Art Historiker wie Jan Kerschow und Moshe Lewin vorgemacht haben. Das läßt sich nicht auf fünf Seiten erklären, wie Courtois das in seinem Vorwort tut.
Courtois sagt auch, daß die Nationalsozialisten mit ihrem Konzentrationslagersystem dem Beispiel der Sowjetunion gefolgt sind, die bereits vorher Lager eingerichtet hatte.
Es gibt eine weitgehende Simultanität. Die ersten Lager in der Sowjetunion entstehen 1931, 1932 und 1933. Aber man müßte erst mal zeigen, daß die Nationalsozialisten das Modell der Sowjetunion kopiert haben. Vielleicht haben sie das. Bislang haben wir keinen Beweis dafür.
Wie viele Todesopfer der Repression haben Sie in der Sowjetunion gezählt?
Ich gebe keine globale Zahl. 1921 bis 1922 zum Beispiel gab es 5 Millionen Hungertote. Die Leute sind unter sehr komplexen Umständen an Hunger gestorben. Seit drei Jahren war Bürgerkrieg, es gab Requisitionen, Typhus, Hunger. Man kann das nicht mit Exekutionen gleichsetzen. 6 Millionen Menschen sind bei der Hungersnot von 1932 bis 1933 umgekommen. Das sind schon 11 Millionen Tote in zwei ziemlich unterschiedlichen Hungersnöten. Dann gab es die direkteren Opfer der Repression. Eine Million Tote im Gulag in der Epoche, von der wir präzise Zahlen haben: 1934 bis 1953. Es gibt ungefähr 1,5 Millionen Tote unter den 7 Millionen Deportierten zwischen 1930 und 1953. Und 800.000 Erschossene zwischen 1922 und 1953 – davon die meisten in den Jahren 1936 und 1937. Sie wurden wegen sogenannter konterrevolutionärer Verbrechen von Tribunalen verurteilt, die der politischen Polizei unterstanden. Dann gibt es mehrere hunderttausend im Bürgerkrieg bei der „Pazifizierung“ von Bauern- und Kosakenregionen Gefallene. Wenn man all diese Toten aus sehr unterschiedlichen Gründen zusammenzählt, kommt man auf 15 Millionen.
Im Vergleich zu früheren Studien sind Ihre Opferzahlen niedriger. Woran liegt das?
Neue Dokumente aus den Archiven des Gulag zeigen, daß die Sterblichkeit bei den Deportierten und den Häftlingen viel niedriger lag als zum Beispiel Robert Conquest oder Alexander Solschenyzin geschrieben haben. Die Fortschritte in der Dokumentation seit ungefähr zehn Jahren ermöglichen neue Einblicke in den Bürgerkrieg in der Sowjetunion. Bisher war man von einem Kampf zwischen zwei Armeen ausgegangen: „Rote“ gegen „Weiße“. Heute sieht man die Rolle der „Grünen“ klarer, der aufständischen Bauern gegen das bolschewistische Regime, die den Beitrag zur Armee und die Requisitionen verweigerten.
Haben Sie die kommunistische Doktrin im Hinblick auf die spätere Entwicklung der Sowjetunion untersucht?
In den „Gesammelten Werken“ Lenins ist schon alles gesagt. Daß Lenin einen terroristischen Diskurs führte, müßte bekannt sein. Was mich als Historiker jenseits der Doktrin interessiert hat, war das konkrete Geschehen an der Basis. Ein Beispiel: Im März 1921 wird die NÖP dekretiert. Das gilt in allen Geschichtsbüchern als Ende des Terrors, als eine neue Politik. Was ich mit Hilfe von neuen Dokumenten zu zeigen versuche, ist, daß im März 1921 bloß oben, wo das dekretiert wird, ein Bruch ist. An der Basis leben der Geist und die Praktiken des Bürgerkriegs weiter. Ein anderes Beispiel: Stalin dekretiert die Liquidierung der Kulaken. An der Basis sieht man da ein ganz außergewöhnliches Chaos. Die lokalen Dirigenten der Partei haben diese Operation überhaupt nicht vorbereitet und wissen nicht, was sie tun sollen. Also wird man die unglücklichen Kulaken in Konvois herumfahren, sie in der Taiga zurücklassen. Sie werden fliehen. Sie werden sterben. Das war nicht das Ziel der Operation. Sie sollten irgendwohin gebracht werden, um Regionen zu kolonisieren.
Gab es Zeiten ohne Repression in der Geschichte der Sowjetunion?
Die Repression hörte nie auf, schwächte sich aber ab. Ich will den Mut der Dissidentenbewegung nicht minimieren, aber das sind ein paar hunderttausend Personen pro Jahr gewesen – in einem Land mit 200 Millionen Einwohnern. Man darf nicht nur die Repression gegenüber den authentisch Politischen sehen. In der Breschnew- Epoche gab es zum Beispiel eine im Verhältnis zum Delikt völlig unproportionale Rechtsprechung, wo auf einen kleinen Diebstahl fünf Jahre Lager standen.
Warum hat die Sowjetunion so lange überlebt?
Weil es eine große Zahl von Leuten gab, die Nutznießer waren. Bei Millionen von Opfern gab es auch zig Millionen von Menschen, für die das System mehr als akzeptabel war. Es bot immense Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. Wer in den fünfziger Jahren Arbeiter war, hatte große Chancen, eine sehr schöne Karriere zu machen. Das ist ein Aspekt, der überhaupt nicht in diesem Buch präsent ist. Von Standpunkt des Historikers aus muß man deswegen sehr vorsichtig sein, was die Grenzen des „Schwarzbuchs“ betrifft. Man kann das System nicht verstehen, wenn man nicht auch die Aufstiegsmöglichkeiten und die Duldung eines großen Teils der Gesellschaft betrachtet, der eben nicht Opfer war.
Hat Sie die Reaktion auf das „Schwarzbuch“ erstaunt?
Daß es in Frankreich eine politische Richtung genommen hat, ist verständlich. Es gibt hier noch eine Kommunistische Partei und drei Kommunisten in der Regierung. Ich persönlich sehe allerdings nicht den geringsten Zusammenhang zwischen den heutigen französischen Kommunisten und dem, was vor 50 Jahren in Rußland passiert ist. Das wäre auch absurd. Daß das Buch in das politische Spiel geraten ist, war nicht Ziel der beteiligten Historiker. Das hat allenfalls der Vorwortschreiber gewollt. Und ganz sicher auch der Verlag.
Bereuen Sie Ihre Mitarbeit?
Die politische Ausbeutung stört mich. Aber ich hätte es mir denken können. Es ist eben ein verwirrendes Sujet. Interview: Dorothea Hahn
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