Ein Steuerknigge für die Finanzminister der EU

100 Milliarden Mark gehen den EU-Ländern durch Steuerrabatte im Jahr flöten. Finanzminister suchen Abhilfe  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Die Finanzminister der Europäischen Union wollen endlich anständig werden. Doch ganz ohne Zwang trauen sie sich die guten Manieren nicht zu. Ein Steuerknigge soll deshalb her, damit sich die europäischen Kassenchefs nicht länger gegenseitig in die Tasche greifen. Heute wollen sie sich in Brüssel feierlich versprechen, künftig auf Lockangebote für ausländische Steuerzahler zu verzichten. Zwischen schätzungsweise 60 und 100 Milliarden Mark gehen den Regierungen der EU-Staaten jährlich durch die Lappen, weil sie sich mit Steuerrabatten gegenseitig die Kundschaft abspenstig machen.

Prominentestes Beispiel ist Luxemburg. Vor allem deutsche Kapitalanleger dürfen ihr Geld dort steuerfrei vermehren. Doch „niemand ist frei von Schuld“, räumt ein Beamter des deutschen Wirtschaftsministeriums ein. Auch in Deutschland können ausländische Anleger ihr Geld steuerfrei verzinsen lassen. Waigels Problem sei doch nur, lästert der Luxemburger Regierungschef Jean-Claude Juncker, „daß mehr Deutsche ihr Geld nach Luxemburg bringen als umgekehrt“.

Im Gegensatz zur Bundesrepublik verstößt das Großherzogtum nicht einmal gegen die guten Steuersitten: Luxemburger Banken machen keinen Unterschied zwischen Einheimischen und Fremden. Alle Zinseinnahmen fallen unter das Bankgeheimnis, und eine Quellensteuer gibt es nicht.

Große Unternehmen verschieben ihre Gewinne zudem gern durch firmeninterne Finanztransfers auf belgische und irische Filialen. In den beiden Ländern kommen sie mit einem Bruchteil der üblichen Steuerlast davon. So hat etwa die Siemens AG ihren Steuersatz innerhalb von fünf Jahren von 47 Prozent auf unter 20 Prozent gesenkt — und bezahlt davon keinen Pfennig in Deutschland. Dabei sind Belgien und Irland alles andere als Niedrigsteuerländer.

In Belgien beispielsweise sind die Steuern so hoch, daß einige belgische Unternehmen Zweigniederlassungen in den dafür berühmten Dubliner Docks unterhalten, wo ihre Gewinne steuerlich freundlicher behandelt werden als zu Hause.

Die Bedingungen für die Steuerrabatte sind in aller Regel so formuliert, daß nur finanzkräftige Ausländer in den Genuß kommen können. Die EU-Kommission drängt seit langem darauf, diesen unfairen wie unsinnigen Steuerwettbewerb einzustellen. Denn die ganz legale Steuerflucht der Unternehmen treibt die Arbeitslosigkeit hoch.

Um die sinkenden Einnahmen bei den Unternehmenssteuern auszugleichen, greifen die europäischen Finanzminister bei denen zu, die nicht weglaufen können: Bei den Arbeitnehmern. Seit 1980 sind die Lohnnebenkosten in der Europäischen Union von 35 auf 42 Prozent gestiegen.

Doch gegen die vernünftigste Lösung – eine EU-weite Harmonisierung der Steuersysteme mit Mindestsätzen – sperren sich einige Regierungen, nicht zuletzt die deutsche. „Da geht es an die Steuerhoheit“, wehrt Finanzminister Theo Waigel immer wieder ab. „Wir könnten dann beispielsweise keine Steuersenkungen mehr beschließen“, assistierte ein hoher Beamter in Brüssel vergangene Woche.

Der Leidensdruck durch rasant schwindende Einnahmen hat immerhin die Phantasie der Finanzminister beflügelt. Statt gesetzlicher Regelungen wollen sie einen Verhaltenskodex beschließen. Darin sollen sich die Finanzminister verpflichten, In- und Ausländer künftig gleich zu behandeln und auf Sondersteuerzonen zu verzichten.

Außerdem sollen die nationalen Steuergesetze regelmäßig von einer gemeinsamen Kommission auf unfaire Praktiken durchforstet werden.

Ein solcher Steuerknigge, so Waigels Hoffnung, ist leichter zu erreichen als eine gesetzliche Regelung. Sicher ist das aber nicht. Denn die Widerstände sind nach wie vor groß und beleuchten das Dilemma: Je mehr einige Regierungen an die Wirksamkeit des moralischen Drucks glauben, desto stärker sträuben sie sich dagegen. Ein unkonkretes Papier würden sie sofort unterschreiben.

Mario Monti, Finanzkommissar der Europäischen Union, setzt deshalb auf eine Paketlösung. Der Steuerkodex solle gemeinsam mit einer juristisch bindenden Richtlinie über die Zinsbesteuerung beschlossen werden. Denn daran seien bis auf Luxemburg alle interessiert.

Der Luxemburger Regierungschef Juncker hat bereits signalisiert, daß er nicht länger am Pranger stehen will und zum Einlenken bereit ist. Um seine Steueroase muß er nicht allzu viel Angst haben. Fast alle Finanzminister haben Sonderwünsche. Sie würden gern die EU-Partner in die Pflicht nehmen, ohne ihre eigenen Wettbewerbsvorteile zu opfern. Der Kompromiß, wenn er denn heute zustande kommt, wird eher weich sein.