Kommt doch rüber!

An ostdeutschen Unis sind noch Plätze frei. Ein Zwischenruf  ■ Von Alfons Söllner

„Kann man, wenn sich Studenten bewegen, schon wieder von einer Studentenbewegung sprechen?“ fragte die Frankfurter Rundschau, als die Streikwelle die hessischen Universitäten erreichte, aber die Studentenschaften der restlichen Republik den Anschluß nicht so recht finden wollten. In der Frage liegt, wie häufig in diesen Tagen, mehr die Angst, der Protest könnte vorzeitig in sich zusammenbrechen, als die Lust, die dem nostalgischen Blick den Weg der Erinnerung bahnt. Keine Spur von dem Trauma, das die Ereignisse von 1968 einmal bedeutet haben! Fast hat man den Eindruck, daß die Protestwelle von der „sympathisierenden“ Öffentlichkeit geradezu fürsorglich eingehüllt wird.

Zu Recht wehren die Studenten sich gegen die professoralen 68er, die die Großperspektive der Gesellschaftskritik vermissen, aber auch gegen die resignierten Landespolitiker, die die Entscheidungen im Bildungsressort längst an die Finanzminister abgetreten haben. Wenn sie sich jetzt an die nationalen Instanzen, an das Parlament und an die Bundesregierung wenden, so beklagen sie im Bildungsnotstand zwar ein Versäumnis von allergrößter, von wirtschaftspolitischer wie internationaler Tragweite. Aber sie sind Realisten genug, um zu erkennen, wie tief die Wissenschaftsminister, aber auch die Landesregierungen insgesamt in der finanzpolitischen Klemme stecken.

So zeigt sich das ungewohnte Bild, daß Demonstranten, beinahe humorvoll, begrenzte und pragmatische Veränderungen einfordern: Sie prangern die überfüllten Vorlesungen und Seminare an, die langen Wartezeiten für einen Praktikumsplatz, die ungenügende Ausstattung von Bibliotheken und Labors, die schrittweise Einfrierung der staatlichen Studienförderung – kurz, sie rufen Faktoren ins allgemeine Bewußtsein, die für die Verlängerung der Studienzeiten und für die Steigerung der Abbrecherquoten an den Hochschulen sicherlich mehr verantwortlich sind als die mittlerweile sprichwörtliche „Faulheit“ und pädagogische Inkompetenz der Dozenten.

Der Protest der Studenten ist ein allgemeiner und nationaler, aber er will ganz konkrete Mißstände „vor Ort“ beseitigen. Zwar richtet sich der Vorwurf an die politische Klasse insgesamt, er nimmt die chronische Unterfinanzierung vor allem der Universitäten sowie die immer weiter geöffnete Schere zwischen Studienplätzen und Studierendenzahlen ins Visier. Aber wirklich demonstrierbar wird der Skandal nur an einer ganz speziellen Erfahrung, nämlich an den miserablen Studienbedingungen der Massenuniversitäten. Nicht zufällig liegt das Epizentrum der Erregung dort, wo die Zahl der Studienanfänger unerwartet hoch ausfiel. Einem ähnlichen Bild fügen sich auch die Solidarisierungswellen, die sich um die hessischen Universitäten in kurzer Zeit gebildet haben: Sie formieren sich nicht in konzentrischen Kreisen. Der Protest ist auf die Bildungshochburgen der „alten“ Bundesrepublik beschränkt, auf den Westen und den Norden, er scheint nur zögerlich auf den Süden der Republik überzugreifen und speist sich in Berlin aus einer noch einmal zugespitzten Situation, die auch von gemäßigten Kritikern nur mehr als planmäßiges Kaputtsparen des hauptstädtischen Hochschulsystems bezeichnet werden kann.

Was also fehlt, ist der Osten, sind die Studierenden in den Bundesländern, die „neu“ zu nennen schon bald anachronistisch sein wird. Wenn irgend etwas an der Teilnahme der Öffentlichkeit auffällt, über deren Stärke sich die Studenten nicht beschweren können, dann ist es diese Wahrnehmungslücke. Sie ist übrigens für die Aktivisten des Streiks nicht weniger typisch als für seine teils beflissenen, teils besorgten Beobachter. Geraten die östlichen Universitäten und Hochschulen nur deswegen nicht in den Lichtkreis des bildungspolitischen Interesses, weil sie sich im aktuellen Konflikt bedeckt halten? – Oder wagt keiner offen auszusprechen, was manchen aktiven „Wessi“ im Herzenskämmerlein beschleichen mag: die böse Ahnung, daß die „Ossis“ an den Universitäten eben noch nicht begriffen haben, wozu das Bürgerrecht auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit verpflichtet? Ich vermute, daß keiner dieser Gründe der wirklich maßgebliche ist. Der wahre Grund für die Schieflage, die einer perversen Solidarität zwischen den Aktivisten des Protests und seinen politischen Adressaten gleichkommen könnte, ist vielleicht darin zu suchen, daß die ganz andere Lage an den meisten Hochschulen im Osten bislang überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Nicht als gäbe es hier keine Eingriffe in die Ausstattung der Hochschulen – selbst in Sachsen, das die größte Hochschuldichte und einen durchaus selbstbewußten Wissenschaftsminister hat, wird derzeit in drei schmerzhaften Kürzungsraten das Hochschulpersonal um beinahe 20 Prozent heruntergefahren –, doch können die Studienbedingungen immer noch als idyllisch bezeichnet werden.

Gerade weil die Proteste gezielt und berechtigt, weil die Protestierenden pragmatisch und doch politisch sind, muß es erlaubt sein, vor allem den Erstsemestern unter ihnen eine einfache Botschaft zuzurufen: „Was drängt ihr euch in die überfüllten Massenuniversitäten im Westen? Warum habt ihr nicht den Mut, den kleinen Sprung in den Osten der Republik zu wagen? Von Frankfurt und Gießen ist es doch nicht weit nach Magdeburg oder Halle, von Hamburg und Kiel nicht weit nach Rostock oder Greifswald! Und auch Cottbus und Frankfurt (Oder) grenzen nicht direkt an Sibirien! An vielen der Ostunis werdet ihr finden, was ihr sucht: kleine Seminare, modernste Computertechnologie, gute Betreuung durch die Dozenten usf.!“

„Geht doch nach drüben!“ – aus diesem bösartigen Ratschlag von einst ist heute ein einladendes „Kommt doch rüber!“ geworden. Diese Aufforderung taugt sicherlich nicht als Mittel für die überfällige nationale Bildungsreform: Die beträchtlichen freien Kapazitäten der Ostuniversitäten reichen weder für eine neuerliche „Untertunnelung“ des Studentenberges aus – noch wäre etwas damit gewonnen, die kleinen Hochschulen im Osten ebenfalls in akademische Massenverwahranstalten umzuwandeln. Was aber für den einen oder anderen mutigen Weststudenten, der mit seiner „multikulturellen“ Einstellung Ernst macht, eine individuelle Problemlösung zu sein verspricht, könnte die Ostuniversitäten dazu zwingen, die große Chance der „kleinen Zahl“ endlich konsequent zur Entfaltung zu bringen – statt sich für „eliteverdächtige“ Studienbedingungen zu schämen und unter den Sparhammer der Finanzminister zu ducken. Und das wiederum könnte mithelfen, den „Reformstau“ im Westen zur Auflösung zu bringen.

Diese mögliche Umkehrung des Reformdrucks verdient Beachtung auch aus einem kulturpolitischen Grund. Sie wäre nämlich endlich eine ostdeutsche Antwort auf die Tatsache, daß die Vereinigung der Wissenschaften in Deutschland sich großenteils in der bloßen Übernahme der westlichen Institutionen erschöpfte, wodurch die vorher schon lautstarke Kritik an den westdeutschen Universitäten plötzlich zum Verstummen kam. Wenn es also richtig ist, daß es in der gegenwärtigen Hochschuldebatte so etwas gibt wie die systematische Tabuisierung des spezifischen Reformpotentials der Ostuniversitäten, und wenn dieses Tabu noch die streikenden Studenten unter einen heimlichen, aber effektiven Konsenszwang mit den Verwaltern des Status quo stellt – dann könnte die Beachtung der „kleinen Differenz“, die Entdeckung des „anderen Guten“, das so dicht neben dem „eigenen Schlechten“ liegt, einem gedanklichen Befreiungsschlag gleichkommen.

Keine Schönfärberei: Viele der ostdeutschen Innenstädte, man nehme nur Chemnitz oder Greifswald, sind nicht besonders anheimelnd, und die Entwicklung der studentischen Subkultur läßt allenthalben Wünsche offen. Aber was nützen die noch so komfortablen Bildungsghettos in Heidelberg oder Marburg, wenn studentisches Arbeiten und Leben nicht mehr organisch zusammenfinden. Den Studierenden auf der Straße Respekt für politische Courage! Doch zur Avantgarde der zukünftigen Bildungsreform wird heute am ehesten gehören, wer die besseren Studienmöglichkeiten an den Ostuniversitäten nutzt und mittels ihrer nach Ideen sucht, um die Lähmung an den Massenuniversitäten zu überwinden. Schließlich steht außer Zweifel, daß die Hochschulreform nur gelingen kann, wenn sie sich in organisatorischen und finanziellen Verbesserungen nicht erschöpft, sondern eine neue Idee der Wissenschaft zugrunde gelegt wird.

Alfons Söllner ist Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz