Kontroverse um muslimische Kriegsverbrechen

■ Bosnische Zeitungen setzen ihre Enthüllungen über die angebliche Ermordung von bis zu 3.000 Serben in Sarajevo während des Krieges fort. Izetbegović kritisiert die unabhängige Presse

Sarajevo (taz) – Die Diskussion über muslimische Kriegsverbrechen an serbischen Einwohnern Sarajevos zu Beginn des Krieges im Mai und Juni 1992 schlägt immer größere Wellen. Nach ersten Berichten über Massaker der Truppen des Milizenführers Musan Topalović, genannt Caco, auf dem Berg Trebević und dem Dorf Kazani in der Novemberausgabe der in Sarajevo erscheinenden Monatszeitschrift Dani wurden in der Dezemberausgabe der Zeitschrift weitere Einzelheiten über die Ereignisse von damals nachgereicht.

Vor allem das Interview mit dem bosnischen Serben und ehemaligen Mitglied des bosnischen Präsidentschaftsrates, Mirko Pejanović, worin er berichtete, damals seien bis zu 3.000 Serben in Sarajevo ums Leben gekommen, schlug hohe Wellen. Die verkürzte Wiedergabe des Interviews über internationale Agenturen forderte eine Stellungnahme des amtierenden Präsidenten Alija Izetbegović heraus.

Mirko Pejanović, der im Juni 1992 in den bosnischen Präsidentschaftsrat berufen wurde und während der Belagerung der Stadt in Sarajevo geblieben war, erinnert in dem Interview an die chaotischen Umstände der damaligen Zeit. Seit dem 5. April von serbischen Truppen eingeschlossen und von Artillerie beschossen, bildeten sich unterschiedliche Gruppen zur Verteidigung der Stadt. Auch nachdem am 15. April die Bosnische Armee gegründet wurde, blieben bis Ende Juni bewaffnete Zivilisten aktiv. Teile dieser Gruppen hätten in dieser Zeit willkürlich serbische Zivilisten verhaftet und in von ihnen geschaffene Gefängnisse gebracht, so in dem Hotel Zagreb, in Otoka, Alipasino Polje, Dobrinje, Nakosevo in Kosevo, im Hotel Europa und in einem Lokal in Neu-Sarajevo.

Manche der Verhafteten wurden auf der Stelle ermordet, andere an die Frontlinien gebracht, um als „Schutzschilder“ zu fungieren und Gräben auszuheben. Viele dieser Leute seien dann durch serbischen Beschuß umgekommen. Andere wiederum starben durch die Artillerie der Belagerer. „Serbische Zivilisten waren zu dieser Zeit vor Übergriffen nicht sicher.“

Ausdrücklich weist Mirko Pejanović in dem Interview darauf hin, daß mit der Bestellung von Sefer Halilović zum Kommandeur der Bosnischen Armee und seiner eigenen Amtsübernahme im Präsidentschaftsrat diese Praktiken im Juni 1992 ein Ende fanden. Die Polizei wurde reorganisiert, Zivilisten konnten ab dann nicht mehr verhaftet werden. Allerdings blieben die aus dem kriminellen Milieu stammenden Unterkommandeure Caco, Celo 1 und Celo 2 ein Problem. An ihren Frontabschnitten wurden bis zu ihrer Ausschaltung am 26. Oktober Zivilisten — nicht nur Serben — zum Ausheben der Gräben gezwungen.

Auf die Frage, wie viele Serben in dieser Zeit getötet wurden, erklärt Pejanović: „Es gibt zwei Schätzungen, eine geht von 2.000, eine andere von 3.000 Menschen aus. Es handelt sich um von Milizen ermordete Personen, um Vermißte oder um Personen, die durch Artilleriebeschuß sowie an den Frontlinien beim Ausheben der Gräben getötet worden sind.“

Angesichts der Pressemeldungen bezweifelte Präsident Alija Izetbegović in zwei Interviews mit den Zeitungen Dnevni Avaz und Oslobodjenje die Richtigkeit der Zahlen. Die meisten der damals getöteten Serben seien nicht ermordet worden, von einem systematischen Terror gegenüber Zivilisten wie auf der serbischen Seite könne in Sarajevo nicht gesprochen werden. „In Sarajevo wurden nach den ersten Wirren sichere Verhältnisse für alle Bürger geschaffen“, erklärte Izetbegović.

Er warnte die unabhängige Presse davor, sich mit Sensationsmeldungen gegenseitig zu übertrumpfen und damit aus dem Blickfeld zu verlieren, wie viele Menschen in den serbisch kontrollierten Gebieten 1992 den systematisch angelegten „ethnischen Säuberungen“ zum Opfer gefallen sind. Gleichzeitig sprach er sich für die Pressefreiheit aus, „denn ohne freie Presse würde es um unser Land schlecht bestellt sein“. Erich Rathfelder