■ Abschlußbericht: Die Estonia-Havarie und wie es dazu kam
: Ungesühnte Schuld

Drei Jahre haben Schiffahrtsexperten, Konstrukteure, Kapitäne und Regierungsvertreter aus Schweden, Estland und Finnland den Untergang der „Estonia“ untersucht. Sie haben je nach nationaler Interessenlage gelogen, vertuscht und abgewiegelt. Aus reiner Rücksichtnahme auf die estnische Regierung hielten die Abgesandten den Abschlußbericht der Internationalen Havariekommission zwei Jahre zurück und veröffentlichten ihn erst gestern. So bleibt die Schlußfolgerung über das größte Fährunglück in europäischen Gewässern nach dem Krieg dieselbe.

Die Bugklappe der Estonia war von der Papenburger Meyer-Werft falsch konstruiert und der Verschlußmechanismus zu schwach. Damit liegt die Ursache für den Tod von 852 Menschen am 28. September 1994 um 14 Jahre zurück. Denn schon 1980 lief die später Estonia genannte Fähre in Papenburg vom Stapel. Der damaligen „Viking Sally“ fehlte erwiesenermaßen ein Sicherheitsschott hinter der Bugklappe. Das bei Hochseefähren vorgeschriebene Schott hätte verhindert, daß die Fähre innerhalb von 30 Minuten volläuft, kentert und schließlich wie ein Stein auf den Meeresgrund sinkt.

Doch auch wenn die Meyer-Werft damals unverantwortlich handelte, trifft sie nicht die alleinige Schuld. Werftbesitzer Meyer kann sich die Verantwortung mit den Schiffsingenieuren der Klassifizierungsgesllschaft Bureau Veritas teilen. Sie prüften die Sicherheit der Estonia. Dazu gehen die Prüfer üblicherweise an Bord und kontrollieren einzelne Bauteile von der Bugklappe bis zum Zylinderkopf. Doch jede Prüfung ist nur so gut wie die Menschen, die sie durchführen. Bureau Veritas hat aber in der eigenen Branche und der Schiffahrt einen schlechten Ruf. Die Sicherheitsprüfer der französischen Firma machen sich nicht gern ihren Anzug schmutzig. Das passiert auf Schiffen jedoch schnell mal. Da wird dann die wirkliche Überprüfung einem Decksarbeiter überlassen, der, wie bei der Estonia bekannt, das die Bugklappe sichernde Atlantikschloß im Winter mit dem Vorschlaghammer vom Eis befreite, statt es abzutauen.

So reiht sich in die Schlange der Schuldigen auch der estnische Reeder ein, der selbstredend von dem fehlenden Schott und den Bureau-Veritas-Berichten wußte und eine nur mangelhaft ausgebildete Besatzung anheuerte. Den Opfern und Überlebenden nützt das nichts. Ebensowenig wie der Bericht der Havariekommission. Denn nicht einmal vor Gericht lassen sich die Erkenntnisse noch verwerten. Ulrike Fokken