: Die Berliner Stimulation
Künstlersozialkassenpatienten aller Länder, vereinigt euch! Kitty-Yo heißt das Label, das neue Unabhängigkeit verspricht. Mit Musik jenseits der Klischees von „Independent-Rock“ ■ Von Gunnar Lützow
Wie hatten sich Dire Straits doch gleich das Leben im Rockbiz vorgestellt: Gitarre auf MTV spielen, während andere Leute Kühlschränke schleppen müssen, Geld für nichts bekommen und gebratene Tauben beziehungsweise Hühnchen obendrauf?
Im Büro des Berliner Indie-Labels Kitty-Yo sieht es anders aus: Statt gekühltem Sekt steht lauwarmer Pfirsich-Eistee herum, und wenn Besuch kommt, was immer öfter der Fall ist, nimmt man auf kistenweise Vinyl Platz. Wo selbst in den Außenbüros der Major-Firmen mindestens eine goldene Single hängt, klebt bei Kitty-Yo die Speisekarte vom Pizzaservice, und die Tischplatten brechen pittoresk unter unerledigter Arbeit zusammen.
Immer mittenmang der siebenundzwanzigjährige Exjurastudent und Labelgründer Patrick Wagner. Wagners Lieblingswort ist „unglaublich“. An guten Tagen fällt es alle fünf Minuten, während sein dreißigjähriger Kollege Raik Hölzel, der zu Ostzeiten Elektriker gelernt hat, mehr den ruhenden Pol abgibt und für Gleichstrom sorgt. Etwa wenn die Booking- Agentur mal wieder Mist gemacht hat und sich die Tour von Wagners Noise-Rock-Band Surrogat um ein Vierteljahr verschiebt.
Kleines Beben in der Low-Budget-Stadt
So weit, so üblich an der Spree, wo immer noch – und trotz aller Bemühungen in Richtung Gentryfizierung – was von dem Klischee stimmt, Kulturschaffende aller Länder, Regionen und Bezirke wurstelten hier in vergleichsweise preisgünstigen Wohnungen in aller Ruhe vor sich hin.
Doch ungefähr alle acht Jahre erreicht auch die unkaputtbare Low-Budget-Stadt ein kleineres Beben. Nach den Abenteuern der genialen Dilettanten in den Achtzigern und dem Aufstieg und Fall der Raving Nation seit Wendezeiten deutet sich jetzt wieder was an: eine neue Selbständigkeit, eine Wiederbelebung des Independent- Gedankens, verbunden mit einer Musik, die die gängigen Klischees von „Independent-Rock“ hinter sich läßt.
Während andere Kleinlabels die von ihnen aufgebauten Künstler heute an größere Firmen „ausleihen“, um am Mainstream teilzuhaben und doch „Underground“ zu bleiben, träumt man bei Kitty-Yo ganz basisdemokratisch von Netzwerken, Genossenschaftsstrukturen, von weltweiter Kooperation jenseits der Majorkanäle, von eigenen Plattenläden und Fanzines. Und natürlich, gut protestantisch, von der Entwicklung einer „anti-corporate Corporate Identity“.
Mit solchen Ideen läßt sich leichter ertragen, daß vorläufig bloß Magermilch und Aldi-Honig fließen. Antye beispielsweise, Sängerin bei Kitty-Yos Drum'n'Guitar- Act Laub, kostet gerade alle Nachteile des Independent-Daseins voll aus: Doppelbelastung durch Band und Kneipenjob, Ärger mit der Künstlersozialkasse, die viel Geld schätzt, wo unterm Strich welches fehlt, weil die vierstelligen Verkäufe von Laub zwar für Indie- Verhältnisse beachtlich sind, aber nicht einmal ausreichen, um der frisch aus Hamburg importierten Mitarbeiterin Constanze einen Ansatz von Gehalt zahlen zu können. Von vernünftigen Vorschüssen für die Künstler ganz zu schweigen. Die gute alte Selbstausbeutung also, befeuert immerhin von Aufbruchstimmung.
Bevor jedoch an Auftritte und ähnliches zu denken ist, kommt die Arbeit an der Vertriebsfront: Plattenhändler vor Ort vom eigenen Produkt überzeugen und ähnliches. Zum Improvisierten des ganzen Unternehmens paßt, daß das Telefon auf eine dieser Gratisleitungen geschaltet ist, die alle fünf Minuten einen Werbeblock bringen, daß die Raumtemperatur mit alten Elektroheizröhren aus der S-Bahn mühsam aufrechterhalten wird, daß sich das Klo im Hof befindet und daß Wagner und Hölzel – wenn sie nicht gerade Bands wie Kante oder Couch entdecken – im Biergarten kellnern oder sich auf Dachböden mit morschem Gebälk herumplagen müssen. Wo der Strom herkommt, der die Heizröhren heizt, steht wohl besser nicht in der Zeitung.
Avant-Krach zwischen Tür und Angel
Worüber man allerdings getrost berichten darf, sind die respektablen Eckdaten des seit kurzer Zeit auch mit schwarzen Zahlen vertrauten Jungunternehmens: Zehn Longplayer, von denen bis jetzt neun auch außerhalb Berlins – ohne Promo-Etat und andere Wettbewerbsvorteile der Größeren – einiges an Resonanz erhielten, ein sehr ausverkaufter Abend bei der diesjährigen Popkomm und eine Einladung für vier Bands zum „South by Southwest“-Festival nach Austin, Texas.
Schwerer als solche Zahlen wiegen die Verdienste um den angeschlagenen Ruf der Berliner Musikszene: Die inzwischen aufgelösten Wuhling beispielsweise stellten mit ihrem druck- und dennoch gefühlvollen Sound die angestammte Rockerherrlichkeit in den Schatten, To Rococo Rot erfanden zwischen Tür und Angel die instrumentelle Zukunft des Techno und gelten heute weit über Stadt- und Landesgrenzen hinaus als Pioniere (was sich sogar bis zu Jil Sander herumgesprochen hat, die die Musik der Lippok-Brüder jetzt am Laufsteg laufen läßt). Auch die auf den Alben von Wagners Projekt Surrogat stattfindende Annäherung zwischen Avant-Krach und fortgeschrittener Elektrobastelei ist schwer aufregend.
We want you for Gründerzeit!
Aber Moment mal – ist das, was Hölzel (Ost) und Wagner (West) da mit Bands machen, nicht genau das, was vom Bundespräsidenten an abwärts angemahnt wird: Berlin als unternehmungslustige Werkstatt der Einheit, als „Kreativschmiede“, die keine Befindlichkeiten mehr kennt, sondern gründerzeitliche Erfolgsstories vorweisen möchte – der erfinderische Urbanit als Retter der maroden Innenstadtbezirke? Raik Hölzel: „Ich denke, daß es in der nächsten Zeit noch zu einigen Umbewertungen kommen wird, was diese Gründerzeitgeschichten angeht. Bisher hatte das ja immer einen faden Beigeschmack, aber das ist mit diesen ganzen Yuppies nicht zu vergleichen. Wenn wir – und viele andere ähnlich katastrophal unterfinanzierte Unternehmen – es in ein paar Jahren geschafft haben, dann ist es hart erarbeitet.“
Die Grundbedingungen dafür bietet die Stadt nach wie vor: Das erste Kitty-Yo-Jahr verbrachte man in Wagners Wohnzimmer in der Schliemannstraße im rauhen nördlichen Prenzlauer Berg, der „punkigen Do-it-yourself-Gegend“, dann residierte man für vierzig Mark auf fünf Quadratmetern jener Brunnenstraße in Mitte, die zwar Szene-Anschluß hatte, aber jedes Jahr bei den Pollution- Polls ganz vorne ist. Nun erst sitzt man noch immer für geschenkte dreihundert im Fadenkreuz zwischen Auguststraße, Universal Office, EMI-Außenbüro, der Werbeagentur Scholz & Friends und allem, was in der neuen Berliner Weltordnung noch so zählt.
Hölzel will trotzdem kein Bestandteil davon sein: „Wir sind beschissene Geschäftsleute“, meint er, „uns fehlt jede Form von Bauernschläue. Eigentlich ist man doch nur ein guter Geschäftsmann, wenn man andere übers Ohr haut, oder?! Da fehlt uns jeder Bezug. Und je größer das Geld ist, das vor der Tür steht, desto schlechter geht es uns.“
Auf welche Zukunft einigen wir uns?
Ein Fax vom New Yorker Label Zero Hour kann da bei Patrick Wagner, der als Sänger von Surrogat doppelt involviert ist, schon für mittlere Bauchschmerzen und Armlähmung statt Handschlag sorgen. Wie groß will man werden? Und wie schnell soll es gehen? „Wir sind jetzt so weit, daß wir ihnen eine Summe nennen sollen, als Vorschuß für die Lizenz. Da geht es um Summen zwischen zehn- und hunderttausend Dollar. Aber für uns geht es nicht darum, zwei Bands da möglichst teuer unterzubringen, sondern langfristig das ganze Programm über Jahre anbieten zu können.“
Obwohl die beiden behaupten, sich nicht einmal ein Handy leisten zu können, behalten sie auch im Jahr drei nach dem Sprung ins kalte Wasser die Vision im Auge, die seit Oktober als Rohentwurf auch auf einem Sampler vorliegt: „Einigen wir uns auf die Zukunft“ – während sich an den Tresen von Köln, München und Hamburg nicht immer, aber immer öfter, künstlerische Stagnation breitmacht, nennen Kitty-Yo aus 10117 Berlin, Payola aus 82632 Weilheim und Kollaps aus 82395 Untersöchering ihr gemeinsames Ding recht ungeniert so.
In vierzehn Tracks aus sieben verschiedenen Ecken geht es durch den großen Felsen „Rock“ hindurch, um ihn herum, über ihn hinweg. Motto: Nicht nur immer gegen Gitarrensolo & Co. anreden, sondern mit einem Bündel Jazz im Gepäck auch mal endlich die besseren Vorschläge machen.
Zwei Freunde sollt ihr sein
Ohne Einbußen am Insider-Status kann das auf die Dauer nicht abgehen. Daß mittlerweile ein Teil des Publikums zu Konzerten von Bands wie Kante und Couch geht, weil das für junge Urbane um die Dreißig und ab viertausend netto einfach dazugehört, nehmen die beiden als notwendiges Übel in Kauf – obwohl Raik Hölzel schon schwer irritiert ist, wenn die Rezeption auf „Tocotronic-Level“ (Hölzel) stattfindet und die Bandmitglieder nach Süßigkeit bewertet werden.
Priorität haben bei Kitty-Yo nach wie vor ganz andere Dinge: „Das Wichtigste ist, daß wir beide es trotz all dieser Höhen und Tiefen, trotz der harten Konkurrenz mit den anderen Labels es geschafft haben, gute Freunde zu werden und zu bleiben.“
Was, zumindest fürs hektische Rockbiz, ein ziemlich mutiges Statement ist.
Kitty-Yo-Labelnights mit Laub, Surrogat, Go Plus, Brüllen und Schwermut Forest: Fr., 5.12. Berlin, Kesselhaus der Kulturbrauerei, Sa., 6.12., Hamburg, Logo
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