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Village VoiceDerrick auf Doppelvinyl

■ Während es die Galerie Berlintokyo ganz schön bunt kesseln läßt, träumen die Elektronauten von Anarchie im Sommerregen

Reisen bildet, doch manchmal macht es auch sehr traurig. Vor ein paar Wochen beispielsweise konnte man in der Kantine des Hamburger Schauspielhauses Tom Liwa erleben, der zwei sehr junge Menschen aus Passau fürs Vorprogramm dabeihatte. „Himmel“ hieß ihre Band, und zur akustischen Gitarre kündigten sie mal so eben auf, was ganze Generationen in die Fremde zwang. „Geh doch einfach zurück, du gehörst nicht hierher. Scheiß auf die großen Städte, und scheiß auf die Wette, daß du es überall schaffst. Denn das ist nicht wahr und es ist auch nicht nötig – denn du bist doch schon glücklich.“ Was dann wohl bedeutet, daß das Modell „Jugend trainiert in Bohemia“ langsam an Aktualität verliert.

Doch da sich die Band bald für ein ganzes Jahr halbiert und auch keine Platte erscheint, können wir Leber, Lunge und Hirn weiterhin bedenkenlos verwetten: Grüne Haare sind Pflicht, die Kür heißt dann Kunst und findet an Orten wie der Galerie Berlintokyo statt, wo sich Bilder von Cheap-Art-Herzen wie 4000, DAG und Jim Avignon bewundern lassen, während dazu junge aufstrebende Bands spielen, die nicht nur „Bud Spencer Blues Explosion“ heißen, sondern auch so klingen.

Damit wir, die wir damals unvorsichtigerweise auch noch um die Ehre gewettet haben, den Dabeigebliebenen auch beweisen können, daß wir zumindest ganz nah dran waren, hat man sich bei Berlintokyo jetzt etwas Feines ausgedacht. Außer einer komischen Frisur und aufgeschürften Knien nehmen wir also auch voller Stolz Spielkreis 01, die schicke Compilation aus dem Hinterhofkeller der Rosenthaler Straße 38, mit zurück. Allein die traumhaften Rahmendaten: Doppelvinyl statt einfachen Silbers, limited edition statt goldener Schallplatte! Auch prima ist die gewagte Zusammenstellung. Welch ein Kessel Buntes! A-Prominenz (Schorsch Kamerun), Lokalprominenz (Pop Tants) und die Hoffnungsträger der übernächsten Saison (Derrick) und zwanzig andere mehr zupfen, klopfen und pfriemeln sich durch das gesamte Spektrum zwischen halbwegs avanciertem Elektrozeugs, schnödem Gitarrengerödel und echt dummem Retro- Rock nach Art von Prollhead.

Ebenfalls vertreten sind die neunköpfigen Elektronauten, deren Ingenieur Marc Weiser erst neulich bei Berlintokyo zusammen mit einem Videokollegen aus dem „Rechenzentrum“ zu erleben war. Die Band-Biographie liest sich wie ein letzter Gruß an das vergangene Berlin der offenen Tür: Darmstädter Anarchisten spielen mit Tapedecks herum, werkeln in Sachen Industrial und ziehen in die Big Band City, wo sie den Eimer besetzen und dort im verlängerten Sommer der Anarchie noch einmal unter schwarzen Fahnen die coole Einheit von Militanz und flotten Rhythmen träumen.

Die dazugehörige Diskographie eiert allerdings. Remixe für Bokelbers „Fritten und Bier“ und ähnlichen Schrott zahlen wohl den Tourbus, Bindemittel gehen in Ordnung, und den Inchtabokatables helfen die Elektronauten sogar gleich dreifach aus dem Mittelalter. Interessant wird es aber erst bei Tarwater – oder allein im Haus: Sowohl die 12-Inch Collective Induced Fiction als auch die logischerweise in Weiß gehaltene EP Blacklabel sorgen zur Abwechslung mal nicht fürs übliche Breakbeat-Gewitter, sondern verwöhnen die schwer von Darkness und Techstep beanspruchten Lauscher mit etwas, was locker als „warmer Sommerregen danach“ durchgehen würde. Und während – mal ganz grob in den aktuellen Rephlex- Kategorien gerastert – auf der EP einiges gerne abgefahren wie Aphex Twin wäre, aber sich dann doch nicht traut, kommt „Now it's Jazz“ von der B-Seite der Langrille wirklich gut an und erinnert eher an den Juniorpartner Squarepusher.

Das Debütalbum erscheint dann demnächst auf dem Nürnberger Incoming-Label – und auch Nürnberg ist eine Reise wert: Neulich beim Tocotronic- Konzert im KOMM nämlich fand sich am Plattenstand allerschönstes neues Material aus dem selbstgebauten Postrock-Regal. Eine neue tolle Indie-Szene also auch dort zwischen Bratwürsten und Lebkuchen? Na ja, lautete die umwerfende Antwort, das seien bloß die Platten von Leuten, die in einer Kleinstadt dreißig Kilometer westlich säßen. Gunnar Lützow

Galerie Berlintokyo, Spielkreis 01 (Eigenvertrieb)

Elektronauten, Collective Induced Fiction, Blacklabel (Data Error Records)

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