"So unbegreiflich wie alles andere"

■ Aus der Luft gegriffen: Lydia Kavina spielt das Theremin, eine Art Ur-Synthesizer, den ihr Großonkel Lew Theremin in den zwanziger Jahren erfand. Das Merkwürdige daran: Die Klänge entstehen, ohne daß ma

Als der 30jährige Erfinder 1927 seine Box auf der Frankfurter Musikmesse vorstellte, sprach man von „Sphärenmusik“, von „Engelstimmen“ und „Äthermusik“. Die Gänsehaut verursachenden, gruseligen Glissandi, die Hollywoods Horrorfilme in den Fünfzigern noch horribler werden ließen, kamen aus einem unscheinbaren kleinen schwarzen Kasten, der den Namen seines Erbauers trug: dem Theremin. Ohne daß es berührt wurde, fing das merkwürdige Instrument an, unsägliche Klagelaute auszustoßen. Doch im Brockhaus sucht man Lew Sergejewitsch Theremin heute vergeblich. Seine große Zeit war das in New York verlebte Jahrzehnt, wo er mit General Electric und RCA ins Geschäft kam, sich ein Musikstudio einrichtete, und den Geige spielenden Albert Einstein auf seinem Theremin begleitete. Er heiratete die schwarze Tänzerin Lavinia Williams, deren Bewegungen von einem speziell für sie gebauten Theremin in Musik umgesetzt wurden. Das New Yorker Zwischenspiel fand ein abruptes Ende: Theremin wurde vom russischen Geheimdienst gekidnappt und wegen „antisowjetischer Propaganda“ in ein Lager gesteckt. Er überlebte und konstruierte später am Moskauer Konservatorium neue Theremins. In seiner Familie sah sich Lew nach einem potentiellen Nachfolger um. Seine Wahl fiel auf die neunjährige Großnichte Lydia Kavina. Die heute 30jährige Thereminspielerin und Komponistin erinnert sich:

Lydia Kavina: Er lebte am anderen Ende von Moskau, besuchte uns aber jede Woche einmal. Irgendwann brachte er ein kleines Theremin vorbei, das er extra für mich gebaut hatte.

taz: Wie hast du auf den Zauberkasten reagiert?

Oh, für ein Kind ist alles ein Wunder, und das Theremin war so wunderbar und unbegreiflich wie alles andere auch.

Hat dich dein Onkel getriezt, um ein Wunderkind aus dir zu machen?

Nein, hat er nie, er war ein sehr netter Mensch mit viel Humor. Er kam immer am Freitag und brachte Schokolade mit. Ich mußte nicht jeden Tag üben, sondern wie ich gerade Lust hatte.

Aber irgendwann mußtest du doch einen gewissen Perfektionsdrang entwickelt haben?

Ja, mit 13 oder 14, aber er war immer von dem Gefühl begleitet, daß Perfektion sich nie erreichen läßt, höchstens bei einem bestimmten Stück.

Ich denke an technische Perfektion.

Niemand weiß so richtig, was technische Perfektion auf dem Theremin bedeutet. Die Person, die man fragen müßte, ist Clara Rockmore, eine Schülerin meines Onkels in New York. Sie hat ihre klassischen Stücke absolut perfekt gespielt. Sie hat mit 16 bei ihm angefangen, inzwischen ist sie 87. Sie kommt auch in dem Film vor, den Steen Martin über meinen Onkel gemacht hat, „An Electronic Odyssey“.

Was muß eine Thereminvirtuosin können? Wie spielt man das Theremin?

Um Töne zu formen, muß sie ihre Bewegungen koordinieren und auf den Millimeter genau bemessen können, und sie muß ein absolutes Gehör haben, denn man bewegt sich im Klang und auf den Klang zu. Man kann nicht einfach in die Tasten hauen, alles bleibt körperlos, virtuell. Was die Technik angeht, so gibt es zwei Antennen, zwei Klangparameter, die Tonhöhe und Lautstärke steuern. Zwischen ihnen befindet sich ein schwaches elektromagnetisches Feld. Bewegt man die rechte Hand auf die rechte Antenne zu, wird der Ton höher, mit der linken reguliert man die Lautstärke. So einfach ist das.

Um die Klänge aus der Luft zu greifen, hilft dir da deine weibliche Intuition?

Das meinst du wohl nicht ernst? Nein, was immer das ist, die weibliche Intuition, das Gehör ist wichtiger. Ich spiele auch nicht aus dem Sonnengeflecht heraus.

Wo werden Theremins gebaut?

In Amerika baut Bob Moog, der Erfinder des modernen Synthesizers, schon seit den fünfziger Jahren Theremins, er hat gerade ein neues High-Tech-Theremin, das Midi-Theremin, entwickelt. Aber auch in England werden sie gebaut. Die Firma Longwave hat sogar ein Taschen-Theremin für etwa hundert Mark auf den Markt gebracht.

Was ist das Besondere an dem Midi-Theremin?

Es stellt die direkte Verbindung zwischen dem Theremin und dem Computer her und läßt die kalten Synthesizerklänge lebendiger werden. Midi ist eine „Computersprache“, die Töne in computerlesbare Daten übersetzt. Aber die ganzen Möglichkeiten, die das Midi bietet, müssen erst entdeckt werden. Es ist im wörtlichen Sinn Zukunftsmusik.

Wie groß ist das Interesse in Rußland?

Die Leute fangen gerade mal an, sich für elektronische und Avantgardemusik zu interessieren. Aber zumindest wird elektronische Musik nicht mehr als westlich-dekadent betrachtet. Das Interesse ist in jedem Land anders. In Amerika haben sich vor allem Hollywood und Popkünstler für Thereminmusik interessiert, in England und Deutschland ist es vor allem die Avantgarde.

Auch im Internet gibt es inzwischen eine Theremin-Gemeinde. Und Techno-Gruppen benutzen immer häufiger diesen Sound. Was fasziniert sie?

Ja, es gibt The Theremin Home Page und den Theremin Enthusiasts Club. Ich nehme an, es ist der optische Effekt – daß man vor dem Kasten herumtanzt und Klänge erzeugt –, und dann die neuen Möglichkeiten. Die Renaissance ist voll im Gange.

Und daß sie in Gang kam, ist nicht zuletzt dein Verdienst, obwohl du immer bescheiden im Hintergrund bleibst.

Ich will produzieren, aber nicht mich selbst.

Die Liste deiner Kompositionen reicht vom „Requiem“ für Theremin und Synthesizer bis zur Concerto fantasy für Theremin und Orchester. In deinem Repertoire sind sowohl Klassiker wie Debussy und Rachmaninow vertreten wie auch die neueste Avantgardemusik. Was wird bei der gemeinsamen Performance mit Interbrains zu sehen und zu hören sein?

Ich werde bei dem Event Hybrid Exposures das Midi-Theremin vorführen, und das ist eine Art Weltpremiere, denn der Sound wird mit Bildern verbunden – elektronischen Bildern in Echtzeit –, und am Sonntag nachmittag werde ich eine halbe Stunde auf dem Theremin spielen. Aber das ist nur mein Teil.

Was findest du im Augenblick in der Musikszene am interessantesten?

Die im ZKM Karlsruhe aufgeführte Multimedia-Opera von Kiyoshi Furukawa hat mich total fasziniert. Das war meiner Meinung nach etwas wirklich Neues. Interview: Uta Goridis

Lydia Kavina tritt bei „Hybrid Exposures“ auf: 6.12., ca. 24 Uhr, 7.12., ca. 16 Uhr, Quartier 206, Friedrichstraße 71