Anschwellendes Material zum Jubeltermin

■ Auf 3sat startet eine 62teilige (!) Brecht-Werkschau (Sa., 19.20 Uhr). Sie eröffnet mit dem Zusammenschnitt einer 5teiligen Dokumentation, die im Februar im Ersten und bei arte läuft

„Es war an der Zeit, Brechts Werk filmisch aufzuarbeiten“, erklärte Fernsehmacher und Brecht- Enthusiast Joachim Lang am Donnerstag in Berlin. Womit er nicht nur platterdings den bevorstehenden 100. Geburtstag des Dichters am 10. Februar 1998 gemeint haben wird, sondern auch das anschwellende Material zum Thema, das auf den Markt drängt und in immer mehr Archiven entdeckt werden will. Wer jetzt keinen Beitrag macht, blickt nie mehr durch.

Brechts eigene Filme samt Nachlaß, Aufzeichnungen der Modellinszenierungen mit dem Berliner Ensemble, frühere und neue Interviews mit Zeitzeugen, Bücher von Brecht-Forschern und Bücher über Brecht-Forscher sowie Zeugnisse der täglich wachsenden Rezeption von aktuellen Inszenierungen bis zum XL-T-Shirt mit Brecht-Motiv – das alles rief: Beachte mich!, was Joachim Lang und Christina Brecht-Benze (nicht verwandt!) für „die bisher umfassendste Dokumentation zum Leben und Werk des Dichters“ getan haben. Herausgekommen ist dabei als Gemeinschaftsproduktion des Süddeutschen Rundfunks und arte eine fünfteilige Sendereihe, die auch der Brecht-Chronist Werner Hecht als bisher üppigste bezeichnet, wobei nur etwa zwei Prozent des zugrundeliegenden Materials überhaupt in die Filme eingegangen seien.

In Teil 1 und 2 dieser definitiven Brecht-Dokumentation (DBD), die erst im Jubelmonat Februar in der ARD und auf arte gesendet wird, beschäftigt sich Lang vor dem Hintergrund von reichlich Zeitgeschichte mit Leben und Werk: Historische, neu entdeckte und neu gemachte Aufnahmen, Erwin Geschonneck singt vor laufender Kamera „Vorwärts und nicht vergessen...“, und Barbara Brecht-Schall erinnert sich an den „Sonntagsvater“. In Teil 3 geht Brecht-Benze der Brecht-Rezeption in seiner Geburtsstadt Augsburg und anderswo nach, in den Teilen 4 und 5 (die nur auf Südwest3 ausgestrahlt werden) läßt Lang Zeitzeugen zu Wort kommen. Was davon bei der Projektvorstellung im Berliner Brecht- Haus zu sehen war, machte einen guten Eindruck, und nur daß die Sendetermine sowohl auf arte als auch in der ARD gegen Mitternacht tendieren, ist nicht schön. Wobei Werner Hecht nachdrücklich zum Aufzeichnen riet.

Einen Vorgeschmack immerhin vermittelt heute abend zur Prime time (19.20 Uhr) Joachim Langs Trailer-Version seiner Filme für 3sat: eine 30minütige und entsprechend rasant gefaßte Einführung zur heute beginnenden 3sat-Retrospektive mit dem Kalauertitel „alles, was Brecht ist...“. „4.700 Sendeminuten von und über Brecht sowie über einige Personen, die sein Werk maßgeblich beeinflußt haben“ wird es bis zum Geburtstag geben, in Videokassetten gerechnet sind das 26.

Zur Werkschau gehören natürlich auch Aufzeichnungen berühmter Theaterinszenierungen. Therese Giehse ist als „Mutter“ in der legendären Schaubühnen- Aufführung von 1971 zu sehen (13.12.) und Helene Weigel als Frau Carrar in einer Fernsehinszenierung von Egon Monk aus dem Jahr 1953 (28.12.). Aber auch Originales kommt vorbei: das stumme Kurzfilm-Vaudeville „Mysterien eines Frisiersalons“, das der arme B.B. 1923 mit Karl Valentin und Erich Engel drehte (14.12.) oder das filmische Ergebnis von Hans- Jürgen Syberbergs Besuchen bei Brecht-Proben im Jahr 1953 (2.1.).

Und Claus Peymann, den zukünftigen Intendanten des Berliner Ensembles, sollte man sich als jungen Spielleiter des Frankfurter Theaters am Turm auf einer 1968er-Podiumsdiskussion über Brecht-Inszenierungen (15.1.) nicht entgehen lassen: Gesellschaftsverachtend rauchend spuckt er marxistische Gesinnung aus, was zwei ältere und eher allgemein sozialdemokratisch eingestellte Kollegen mit roten Nelken im Knopfloch kontern. Über das Prinzip der Werktreue war man sich einig, nur nicht darüber, was im Werk drinsteht. Damals wirkte diese Differenz sicher wie eine Kluft, heute geradezu wie die Grundlage eines Generationenvertrags: Sag es mit Brecht. Petra Kohse