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Kotzen, bis die Mauer wieder steht

Gedicht der Straße – vom Café aus gesehen: Volker Ludwig und das Berliner Grips Theater versuchen an den Welterfolg „Linie 1“ anzuknüpfen. Die neue Berliner Identifikationsrevue spielt im Osten. Im „Café Mitte“ trifft sich alles, was sprechen kann und kein Nazi ist  ■ Von Petra Kohse

„Es ist nicht so leicht, das Lebensgefühl, das heute in Berlin herrscht, zu beschreiben.“ Sagt Volker Ludwig, der als Leiter und Hausautor des Berliner Grips Theaters seit einem Vierteljahrhundert die Fahne des aufklärerischen und politisch korrekten Jugendstücks trägt. Und der mit diesem Satz nicht begründet, warum er es gar nicht versucht, sondern entschuldigt, warum es so lange gedauert hat, bis er fertig war.

Denn tatsächlich hat es der 60jährige Volksbarde noch einmal gewagt, hat die Veränderungen seit dem Mauerfall als Auftrag begriffen – und angenommen. Als Volker Ludwig gemeinsam mit dem Komponisten Birger Heymann vor elf Jahren die musikalische Revue „Linie 1“ herausbrachte, hatte er ins Schwarze der Kreuzberger Kiezseligkeit getroffen, und Episodenfiguren wie die Wilmersdorfer Witwen wurden weltweit zum Synonym für das West-Berlin der 80er Jahre. Jetzt allerdings „ist die Welt sehr viel komplizierter geworden“ (Ludwig), ist Berlin nicht mehr nur West-Berlin und Kreuzberg kein Biotop mehr zum multikulturellen Zusammenkuscheln, sondern im Umbruch zum Ernstfall, will sagen: normal.

Dennoch oder gerade deswegen wollte Ludwig ein neues Berliner Identifikationsstück schreiben, ein Postwendestück, das, wegen der neuen Zentralperspektive, nicht in Kreuzberg, sondern – „Go East“ – in Mitte spielt. Und zwar, wegen des allgemeinen Zusammenrükkens, in einer Kneipe, auf dem ost- westlichen Diwan, im „Café Mitte“. Das muß man sich gleich als Refrain vorstellen: „Café Mitte / Wo man nie alleine ist / Café Mitte! / Wo man Bier in Strömen pißt / Wo der Tod am Tresen steht / Wo gelacht wird und gegrölt / Und gejammert und genölt.“

Die Musik stammt von Stanley Walden, der an der Berliner Hochschule der Künste den Studiengang Musical/Show leitet, und hat insgesamt malerischen bis untermalenden Charakter, Typ Melting Pot. Eingangs eine jazzige Sequenz Straßenlärm, dann Rockballaden, osteuropäische oder lateinamerikanische Rhythmen, Rap oder auch Punk-Anklänge, wenn's beliebt.

Und es beliebt: Denn eine Gruppe Straßenpunker steht im Mittelpunkt des „Cafés Mitte“, oder besser: steht auch im Mittelpunkt, denn im „Café Mitte“ steht alles im Mittelpunkt, was nach vorne bellt, aber sich nach hinten auf Herz und Schnauze reimt.

Es geht – ungefähr in der Reihe des jeweiligen Vorkommens – um Ostberliner Wohnungsvermieterinnen und westdeutsche Studenten, Ostberliner Arbeitslose und Bonner Geschäftsleute, um das Handy als Potenzsymbol, junge Fixerinnen und Hippie-Punker aus reichstem Elternhaus, um Illegale in Berlin, Abschiebung, Ratten und HIV, um Väter, die ihre Töchter auf der Straße suchen, Mütter, die die ihren auf selbige treiben, um Rußlanddeutsche, die Russenmafia, Vergewaltigung, Werbekommandos, den türkisch-griechischen Konflikt, polnische Kneipenmusiker, und am Ende tritt noch eine Transe auf.

Zusätzlich gespickt mit allerlei Politikerwitzen und Hausmeisters Stimme („Ich werd' so lange kotzen, bis die Mauer wieder steht“), will sich das alles zu einer Art Volksrevue verdichten, zum Gedicht der Straße, vom Café aus gesehen. Wobei die Anhäufung von Miteinander-leben-Klischees kein Argument gegen das Konzept ist, sondern geradezu die Idee. Die Frage ist nur, wie Ludwig und der Regisseur Rüdiger Wandel damit umgehen. Und da muß man sagen: zu Anfang amüsant und souverän.

Im authentischen Eckkneipeninterieur von Mathias Fischer- Dieskau spielen zwölf Darsteller weit mehr als 30 Rollen, und über ihnen thront, fünfköpfig, die Band No License. Tür auf, Tür zu, aber auch einige geschlossene Szenen. Ostberliner und Westberliner Schnauzen treffen aufeinander, Lowclass-Punker-Sprech weiß Ludwig von Upperclass-Punker- Sprech zu unterscheiden, Bonner bestellen ein Kölsch, russischer und griechischer Akzent kommen authentisch – wenn die Gripsler etwas können, dann ist es, Figuren mit dem Volksmund zu malen. „Was heißt Alice in Wonderland auf russisch? Olga bei Aldi.“

Das von dem Griechen Aristoteles und der Russin Irina geleitete „Café Mitte“ soll bald abgerissen werden. Bis dahin ist es Anlaufstation für alles, was sprechen kann und kein Nazi ist. Auch für den westdeutschen Vater André Meyer, der seine Tochter Inka sucht und das „Vaterlied“ singt. Inka, stellt sich heraus, ist die Fixerin Schnecke, die irgendwann clean ist und sich noch irgendwanner auch tatsächlich mit ihm trifft. Da ist der Cordhosenträger André (betulich gespielt von Thomas Ahrens) bereits sozialkritisch erweckt, in den Wedding gezogen und „macht Tag und Nacht mit Flüchtlingen und Asylanten rum“. „Laß mich dich behüten“, singt er Schnecke (Dagmar Sitte) an, und sie wird sich die Sache überlegen.

Wie fast alle gefühligen Momente gehört diese Szene zum zweiten Teil der fast dreieinhalbstündigen Revue, und nach der Pause sucht man oft fieberhaft nach Anzeichen von Ironie, ohne welche zu finden. Zu schmal ist der Grat zwischen Sympathie mit dem Klischee und schierer Identifikation. Volle Breitseiten Sozialkitsch sind unvermeidlich, und so endet alles mit einer doppelten, fast dreifachen Hochzeit, und der Russenmafiaboß entpuppt sich als wohlmeinender Patron.

Gesungen und gespielt wird meist kraftvoll und kontrastreich, wenn sich etwa Arndt Schwering- Sohrey als Grinsekater und heimlicher Bauherrensohn an Julia Blankenburg als rußlanddeutsche superharte Punkerin Sina heranschnurrt. Das amüsiert sowohl die kindliche Rastalockenträgerin als auch die Oma mit lila Dauerwelle, die – Ehrenwort! – bei der Premiere in der ersten Reihe saßen.

Daß das Ganze trotzdem nicht aufgeht, liegt nicht nur an der Überlänge und an der Kitschrutschgefahr der Geschichte. Der Fehler liegt vor allem in der Ausgangsgleichung Café = Welt, die für Westberlin schon schief gewesen wäre (schon in der „Linie 1“ war man unterwegs: in der Hochbahn), im neuen Berlin aber ganz und gar nicht stimmt. Mehr noch als früher organisiert man sich kiezspezifisch, gruppenspezifisch, funktional. Man kommt nicht einfach so zusammen, und West und Ost gehen sich in der Regel eher aus dem Weg, statt sich in der Eckkneipe zu zoffen.

Ein Reißbrettspaß also ist die neue Revue von Volker Ludwig, ein Mobile: Es bewegt sich, kommt aber nirgendwo an. Als Berlin- Revue ein Abziehbild für die Windschutzscheibe, etwas, das man gerne vorzeigt, auch wenn man nichts darauf erkennt. So könnte es sein, so ist es nicht – im Scheitern, im Auseinanderfallen von Wunsch und Wirklichkeit trifft die Sache ein zeitgenössisches Berlin-Gefühl noch am ehesten.

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