Einer, der auszog, das Gruseln zu lernen

Ewiger Flüchtling mit animalischer Freude am Untertauchen: Jakov Lind gefällt sich auch in seiner Autobiographie in der Rolle des Agent provocateurs. Als Jude überlebte er im 3. Reich und arbeitete im Luftfahrtministerium. In Israel wurde er nie heimisch  ■ Von Thomas Kraft

Betrachtet man Fotos von Jakov Lind aus den sechziger und siebziger Jahren, denkt man unwillkürlich an einen russischen Großfürsten. Eine gewaltige Haarpracht und ein dunkler Walroßbart konturieren markante Gesichtszüge, die zumeist von einem melancholischen Augenlächeln überdeckt werden. Die Assoziation ist nicht ganz zufällig, den russische Schriftsteller wie Dostojewski und Gorki waren für den jungen Lind die literarischen Hausgötter: „Sie machten uns die Welt um uns herum verständlich. Auch Wien war voll von verarmten, unglücklichen Aristokraten, Kleinbürgern, hungernden Arbeitern und verwirrten Luftmenschen.“

Schon früh entschied sich der 1927 als Sohn einer galizischen Kaufmannsfamilie geborene Lind für eine künstlerische Zukunft. Seine literarisch veranlagte Mutter unterstützte ihn nach Kräften. Als 1938 die Nazis in Österreich einmarschierten und „Wien ein riesiges Hakenkreuz“ wurde, verließ er die Stadt mit einem Kindertransport Richtung Holland. Nach dem Einmarsch der Deutschen im Mai 1940 begann auch dort die Zeit des Versteckens und der Flucht. Er besorgte sich falsche Papiere und tauchte unter. Durch Zufall konnte er bei einem Rheinschiffer anheuern: Im November 1943 betrat er wieder deutschen Boden. Kurioserweise erhielt er kurz darauf Arbeit bei einem leitenden Angestellten im Luftfahrtministerium, der sich nach dem Krieg als Spion zu erkennen gab. Lind war also Experte darin, sich stets im Auge des Taifuns zu bewegen.

Nach dem Krieg wurde Lind ein österreichischer Staatsbürger ohne Heimat. Er machte sich auf nach Palästina, um seine Eltern, die dorthin geflüchtet waren, zu besuchen. Mit Gelegenheitsjobs schlug er sich eine Weile durch. In Natanja lernte er Edgar Hilsenrath kennen, diskutierte mit ihm nächtelang über Literatur und schrieb seinen ersten literarischen Text: „Das Tagebuch des Hanan Edgar Malinek“. Nach fünf Jahren, in denen er sich als „Außenseiter im eigenen Volk“ gefühlt hatte, verließ er Israel und reiste ruhelos durch Europa. Er begann ein Regiestudium am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und befreundete sich mit dem Kreis um H.C. Artmann, studierte dann in Amsterdam ein Jahr lang politische Wissenschaften und ging schließlich über Paris und Kopenhagen nach London, wo er heiratete und eine kleine Presseagentur gründete.

Hans Sahl hat Lind einmal als „den ewigen Flüchtling mit einer fast animalischen Freude am Untertauchen und an der Illegalität“ bezeichnet. Diese Anspielung auf die jüdische Geschichte berührt eine Problematik, zu der Lind immer wieder Stellung bezogen hat. Er spricht ungern über die Zeit zwischen 1939 und 1945 und versteht sich, auch wenn er aus einer zionistischen Familie stammt, nicht als Anwalt jüdischer Tradition. So hat er auch den Vorschlag eines amerikanischen Verlegers, etwas über die Geschichte der Juden in Österreich zu schreiben, abgelehnt. Zu diesem und ähnlichen Themen gibt es seiner Meinung nach genügend andere Bücher. Zudem ist ihm die Sache zu „painful“, zu beschämend, womit er den fehlenden Widerstand auf jüdischer Seite gegen die Vernichtungsstrategie der Nazis meint: Abgesehen vom Aufstand im Warschauer Ghetto und von einigen Mutigen, habe sich die überwiegende Zahl der Juden in ihr Schicksal gefügt. Nicht nur die Deutschen hätten also Anlaß sich zu schämen, sondern auch ihre Opfer, soweit sie überlebten. Dies, so Lind, sei eine Seite des Holocaust, die viel zuwenig Beachtung gefunden habe.

Als Lind nun dem erwähnten Verleger abgesagt hatte, hakte dieser nach und ermunterte ihn mit einem schönen Vorschuß, sein wechselhaftes Leben zu erzählen. Lind schrieb mittlerweile in englischer Sprache, das Deutsche war dem Wahllondoner, der auch längere Zeit im legendären Chelsea-Hotel in New York wohnte, fremder geworden. So entstand eine dreibändige Autobiografie „Selbstporträt“ (1969), „Nahaufnahme“ (1972) und nun der dritte Band „Im Gegenwind“, der mit dem Jahr 1954 in London einsetzt. Neben den Episoden, in denen Lind humorvoll auf englische Spleens und die wichtigen Umstände seiner Agenturgründung eingeht, beschreibt er hitzige Diskussionen „über Sex und Liebe, Marxismus und Psychologie, England und Wien und den Kalten Kieg“ im Kreise seiner Freunde Elias Canetti, Erich Fried, Hilde Spiel, Michael Hamburger, Ronald D. Laing und Eric Hobsbawn, erzählt von Schachspielen, Seitensprüngen und Filmprojekten.

Entgegen Linds Behauptung, sich literarisch nicht um jüdische Themen kümmen zu wollen, kann man dem jüngsten Band eine Reihe von Passagen entnehmen, die sich direkt oder indirekt auf den Holocaust beziehen. So berichtet Lind zum Beispiel von seiner Arbeit in der „Wiener Library“, einem Dokumentationszentrum zum Faschismus, bei der er kistenweise Julius Streichers Hetzschrift „Der Stürmer“ auspacken mußte, und erzählt von Soirées reicher, linksliberaler Amerikaner, die ihn als Zeitzeugen bestürmten und die er nachhaltig provozierte: „Die nächste Endlösung betrifft hoffentlich nicht nur die Juden. Nach der nächsten soll uns keiner mehr bemitleiden können. Es ist dieses Mitleid, das sich nur schwer verdauen läßt. Eine Welt, in der die Juden unterdrückt werden wie in der Sowjetunion oder ausgerottet wie in Nazideutschland, kennt keine Moral und keine Skrupel. Sie wird nicht lange dauern, denn sie ist zum Untergang verurteilt.“

In einer Mischung aus Eitelkeit und Selbstironie gefiel Lind sich stets in der Rolle des Agent provocateurs: „Wo immer ich hinkam, war die europäische Tragödie der dreißiger und vierziger Jahre ein unerschöpfliches Thema, und ehrlich gesagt, machte es mir geradezu Spaß, die New Yorker mit meinen Geschichten aus dem Wienerwald das Gruseln zu lehren.“ Die Vergangenheit blieb stets im Gepäck. Zuweilen öffnet er die Pappkartons, und dann purzeln all die Geschichten heraus, mit denen Jakov Lind die Erinnerung wachhält.

Jakov Lind: „Im Gegenwind“. Aus dem Englischen von Jacqueline Csuss und Jakov Lind. Picus Verlag, Wien 1997, 215 Seiten, 29,80 DM