Blick zurück nach vorn

Die Autobiographie als letzte Ordnungsmacht: Über Henry Roth und die Verwandlung von Leben in Literatur  ■ Von Jörg Magenau

Chrisi Gee ist 18 Jahre alt. Am 21. Januar wird er 19. Höchste Zeit, eine „Auto-Biographie“ zu verfassen und sie, verziert mit Fotos vom stolzen Ich, ins Internet zu stellen: „Mis erschte Lebensjahr hani in Könz, Bern, verbracht aber denn si mer, wahrschindlech für immer nach Bolligen züglet. Mit öppe Füfi bini du id Spiel-Gruppe vor Irène gange. Mit sächsi hani du für mi Dorfclub FC Bolligen agfange schutte.“ – Und so fort im Familienalbum einer nicht uncharmanten Home-sweet-home-Page.

Andere warten etwas länger, bevor sie ihr Leben erzählen. Günter de Bruyn, Günter Kunert, Ludwig Harig oder Jakov Lind, die zuletzt mit literarischen Autobiographien hervortraten, sind alle in den 20er Jahren geboren und hatten immerhin vom „Leben in zwei Diktaturen“ und vom Wirtschaftswunderdeutschland zu berichten. Ernst Jünger, älter als das Jahrhundert, veröffentlicht unverdrossen weiter seine Tagebücher. Aber auch Jüngere, Hans Josef Ortheil oder Hans Ulrich Treichel, legten zuletzt Autobiographisches vor und basteln am eigenen Lebenskontext.

Unstillbar scheint jedenfalls das menschliche Bedürfnis, das Leben in eine übersichtliche Erzählung zu verwandeln. Das muß nicht gleich in ein frühvergreistes „Wahrscheinlich für immer“ münden wie bei Chrisi Gee. Doch jede Autobiographie ist eine Fiktion, ein Ordnungsversuch, um die disparaten Momentaufnahmen der Erinnerung in einen narrativen Zusammenhang zu bringen: mein Leben. Das ist besonders in solchen Zeiten attraktiv, in denen „Sinn“ und „Bedeutung“ nur noch individuell herstellbar sind und nicht mehr aus einem „historischen Projekt“ bezogen werden können. Auffallend auch, daß das Autobiographische – von Ausnahmen abgesehen – eine männlich dominierte Form der Selbstvergewisserung und Selbstinszenierung zu sein scheint. Frauen begnügen sich eher mit der weniger auftrumpfenden Form des Tagebuchs.

Das breite Interesse an Autobiographischem hat sicher etwas mit dem Epochenbruch von 1989 und dem Bedürfnis nach Neuorientierung zu tun. Kein Zweifel, am Jahrhundertende geht der Blick zurück. Die Utopien sind verbraucht, die Avantgarde recycelt kraftlos vor sich hin. Fin de siècle: Zeit für eine Inventur zur Sichtung des angesammelten Geschichtsmaterials – vielleicht in der bescheidenen Hoffnung, daß sich doch etwas lernen lasse aus all diesen Lebensentwürfen. Verbraucht und abgestanden klingen all die Klagelieder auf den Tod der Literatur von 1968 ff., überlebt und verschwunden auch die strukturalistischen Analysen, die das Verschwinden des Autors proklamierten. Das Subjekt ist zurück im Zentrum der Wahrnehmung und der Erinnerungen.

Einer der gewaltigsten autobiographischen Romane dieses Jahrhunderts ist das sechsbändige Epos „Die Gnade eines wilden Stroms“ von Henry Roth. Roth, 1906 in Galizien geboren und als Sohn jüdischer Emigranten in New York aufgewachsen, versucht darin, Rechenschaft über ein Leben und ein schriftstellerisches Debakel abzulegen. Die fast 3.000 Seiten seiner Autobiographie trotzte er in den 80er Jahren dem hohen Alter und einer schmerzhaften Arthritis ab und beendete mit dieser Kraftanstrengung eine fast 50 Jahre andauernde Schreibblockade – ein „writers block“, gegen den sich Wolfgang Koeppens bekannterer Fall bescheiden ausnimmt. Als der erste Band 1994 in den USA erschien, meldete sich plötzlich ein Autor aus einer vergangenen Epoche zu Wort, der zusammen mit Isaac Bashevis Singer und Bernard Malamud zu den Begründern der jüdisch-amerikanischen Literatur zu zählen wäre, wenn er nicht „aufgehört hätte, ein Schriftsteller zu sein“, wie er in den 50er Jahren frustriert konstatierte.

Roth starb 1995. 1934 war sein erster und für lange Zeit letzter Roman erschienen. „Call it Sleep“ fand damals nur wenig Beachtung. Das Buch erzählt vom Schock der Ankunft in Ellis Island, vom harten, chaotischen Leben in der Armut des jüdischen Einwandererviertels Lower East Side, vom prügelnden, unberechenbaren Vater und dem erbarmungslosen Antisemitismus der Straße. (Eine Neuübersetzung erscheint im Frühjahr 1998 bei Kiepenheuer & Witsch.) Als Roth daran schrieb, war er Mitglied der amerikanischen KP und gehörte zum Greenwicher Künstlerzirkel um die Literaturdozentin Eda Lou Walton, mit der er verheiratet war. An einem zweiten Roman, pflichtgemäß proletarisch, mit einem idealtypischen Arbeiterhelden, scheiterte er so gründlich, daß er das Schreiben gleich ganz aufgab.

Roth absolvierte nun eine Lehre als Werkzeugmacher, trennte sich von seiner Frau, heiratete 1938 die Pianistin Muriel Parker und zog sich mit ihr und seinen zwei Söhnen in den nördlichen Bundesstaat Maine zurück. Hier arbeitete er vier Jahre in der Psychiatrie – hätte aber nach eigenem Bekunden genausogut Patient sein können –, dann als Holzfäller und Gänsezüchter. In der McCarthy- Ära verbrannte er alle Manuskripte, die er noch besaß, aus Angst, sie könnten in die falschen

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Hände geraten. Immer noch war er Kommunist und blieb es bis zum israelischen Sechstagekrieg. Da wurde ihm plötzlich bewußt, daß er nicht auf seiten der Araber stand, sondern auf Seiten Israels, das doch für einen Kommunisten als der verlängerte Arm des Imperialismus zu gelten hatte.

In den 60er Jahren wurde „Call it Sleep“ neu aufgelegt – und zu einem Bestseller. Mit den Tantiemen und dem Erfolg erwachte auch wieder der Antrieb zum Schreiben, aber es blieb zunächst bei Versuchen und kurzen Geschichten, die in dem Band „Shifting Landscape“ 1987 gesammelt erschienen. Ende der 70er Jahre zogen Roth und sein Frau noch einmal um, nach Albuquerque in New Mexico. Dort lebten sie in einem großen Wohnwagen am Stadtrand, und hier entstand Roths späte, monumentale Autobiographie. „Ich brach ab und zu zusammen, wurde krank, mußte ins Krankenhaus“, sagte Roth in einem Interview. „Aber das hielt mich nicht auf. Das Ganze wurde zur Obsession. Ich mußte fertig werden.“

Um fertig zu werden mit dem Buch und mit sich selbst, erfindet Roth ein Alter ego und nennt es Ira Stigman. Seine Autobiographie bezeichnet er als Roman und erzählt ihn mit zwei Stimmen. Zwischen den aus der Erinnerung heraufgeholten Episoden stehen Abschnitte, in denen der alte Schriftsteller am Computer sitzt, voller Zweifel an den Bildern, die ihn überfluten, und dem, was er schreibt. Ist das nicht alles ein uralter Hut? Viel zu klischeehaft? Und welche Rolle spielt er selbst dabei? Ist er Autor oder Getriebener? Ist er Redakteur dieses Lebens oder ahnungslose Hauptfigur?

Im ersten Band der Autobiographie lernt man die weitverzweigte jüdische Sippe kennen und Iras frühe Versuche, mit all diesen urwüchsigen, knoblauchduftenden Verwandten, die aus Europa kommen, möglichst wenig zu tun haben zu müssen. Nach dem Umzug der Familie von der jüdischen Lower East Side ins damals katholische, irisch dominierte Harlem erfährt Ira, was es heißt, Jude zu sein: Man wird verprügelt und darf nicht mitspielen. In der Schule versucht er deshalb, sein Judentum zu verbergen, das ihm ein Synonym für Armut und Orthodoxie ist. So dauert es lange, bis er erfährt, daß sein Schulfreund Larry, den er wegen seiner Klugheit und bürgerlichen Selbstsicherheit bewundert, auch Jude ist.

Diese Freundschaft steht im Mittelpunkt des zweiten Bandes, der die Jahre 1921 bis 1925, Highschool-Zeit und erste College-Semester umfaßt. Jetzt lernt Ira durch Larry auch ein aufgeklärtes, wohlhabendes Judentum kennen, ein Haus, in dem es ein Grammophon gibt und wo über Literatur gesprochen wird. Um so mehr schämt er sich seiner eigenen Familie und empfindet doch zugleich eine seltsame Überlegenheit über Larry: Ira ist stolz darauf, daß er arbeitet und Geld verdient. Als Handlanger in einem Feinkostladen, als Schaffner einer Buslinie, als Getränkeverkäufer im Baseballstadion und schließlich als Klempnergehilfe macht er Erfahrungen, die ihn von Larrys Wohlbehütetheit abheben.

Mehr und mehr drängt sich jedoch ein anderes Thema in den Vordergrund: die verzehrende, alles andere überlagernde sexuelle Beziehung Iras zu seiner Schwester Minnie. Das Tabu des Inzests ist so stark und wirkt auch in dem alten Mann noch so ungebrochen, daß es lange dauert, bis er sich zu diesem zentralen Punkt seiner Biographie vorarbeitet. Dann aber schildert er diese Beziehung hart und direkt, beschreibt die geile Lust, mit der die Geschwister übereinander herfallen, kaum haben die Eltern die Wohnung verlassen. Er erinnert sich, wie sie im Bett der Eltern oder auf dem Küchentisch vögelten, rasend, besinnungslos, und wie er seine Schwester für ihre Dienste bezahlte. Gummis waren teuer und wurden deshalb in der Spüle ausgewaschen und wiederverwendet. Was für eine entsetzliche, wochenlange Angst dann, als Minnie glaubte, sie sei schwanger. Und trotzdem ging es immer so weiter, jahrelang.

Der Autor der Autobiographie ist immer auf der Suche nach schicksalhaften Momenten, in denen sich das Thema seines Lebens verdichtet. Er inszeniert seine Geschichte als logische Verbindung zwischen einzelnen Knotenpunkten. Die lebenslange sexuelle Obsession, die mit dem Trommelwirbel des Inzests beginnt, ist so ein Leitmotiv, das sich später, im Boheme-Leben der literarischen Zirkel in Greenwich, fortsetzen wird. Mehr noch aber stellt Roth das verleugnete Judentum ins Zentrum. Darin sieht er die tiefere Ursache für sein Scheitern als Schriftsteller, das zu ergründen der eigentliche Sinn dieser Autobiographie ist: Schreiben als Form der Therapie, als Verarbeitung einer traumatischen Kindheit und ihrer lebenslangen Folgen, Literatur als Herstellung von Transzendenz. „Aus etwas Schrecklichem etwas sehr Schönes machen“ – so beschreibt Roth diesen Vorgang der Verwandlung von Leben in Literatur. Das hat nichts mit sentimentaler Verschönerung zu tun. Das Schreckliche wird ja nicht verschwiegen oder abgemildert. Aber es verwandelt sich in Kunst – und war damit immerhin zu etwas gut.

„Ich begann so autobiographisch wie möglich“, sagt Roth über seine schriftstellerischen Anfänge. „Mir fiel nichts anderes ein.“ Er fand zum Schreiben zurück, als er in hohem Alter beschloß, an diese Anfänge anzuknüpfen. Herausgekommen sind eine Jahrhundertbiographie und ein sehr persönliches Epochengemälde, auf deren Fortgang in deutscher Übersetzung man gespannt sein darf.

Henry Roth: „Die Gnade eines wilden Stroms“, „Ein schwimmender Fels am Ufer des Hudson“. Aus dem Amerikanischen von Heide Sommer. Beltz Quadriga, Weinheim/Berlin 1996 und 1997, 392 und 602 Seiten, 46 und 48DM

Henry Roth: „Shifting Landscape“. The Jewish Publication Society, Philadelphia/New York/ Jerusalem 1987