■ Europagipfel: Das Verhältnis der EU zur Türkei bleibt verkrampft
: Dilemma und Chance

Der türkische Ministerpräsident Mesut Yilmaz kommt nicht nach Luxemburg. Als Staffage wollte er sich nicht mißbrauchen lassen – es hätte auch sein Image zu Hause beschädigt. Gerade westlich orientierte Politiker wie Yilmaz geraten in der Türkei leicht in den Verdacht, in Brüssel und in den westeuropäischen Hauptstädten Männchen zu machen. Als Bittsteller, die jede Demütigung hinnehmen, will man sich aber nicht länger vorführen lassen. Kein Wunder das vor dem Gipfel die Parole laut wurde: entweder jetzt oder gar nicht.

Dieses Ultimatum wird in Brüssel zu Recht nicht wirklich ernst genommen und eher als Verzweiflungsschlag gewertet. Wie schon die Drohung der Yilmaz- Vorgängerin Ciller, notfalls gegen die Nato-Osterweiterung ein Veto einzulegen, zeigt es eher eine Position der Schwäche als der Stärke. In Brüssel ist man fest davon überzeugt, daß die Türkei die EU mehr braucht als umgekehrt. Das kann sich aber schon bald als verhängnisvoller Irrtum herausstellen. Der Frust gerade in den westlich orientierten Kreisen des Landes ist groß. Ohne eine positive politische Entwicklung, ohne eine Entscheidung, die der Bevölkerung auch praktisch zeigt, daß die Zusammenarbeit mit Europa etwas bringt, wird sich demnächst wohl resignierte Gleichgültigkeit breitmachen.

Seit fast 35 Jahren ist die Türkei nun Beitrittskandidat. Kein anderes Land hat länger mit der EU verhandelt. Immer neue Gründe tauchten in diesen Jahren auf, die vor einer Vollmitgliedschaft erst einmal ausgeräumt werden sollten, Kein Wunder, daß die Mehrheit der türkischen Bevölkerung zunehmend das Gefühl hat, nicht ernst genommen zu werden, daß die Begeisterung für Europa rapide abnimmt. Für den Kampf um die Demokratisierung der Türkei ist das Gift, ein Rückzug gerade des aufgeklärten, kritischen Teils der Bevölkerung würde dem politischen Islam mehr Raum schaffen, als uns allen lieb sein kann.

Die Türkei ist in einer Situation, die Chance und Dilemma zugleich ist. Die vorzeitige Abreise von Staatspräsident Demirel aus Teheran hat gezeigt, daß der säkular verfaßte Nato-Staat mit guten Beziehungen zu Israel nicht einfach von Westen nach Osten umschwenken kann, selbst wenn die Islamisten stärker werden sollten. Das Etikett „Brücke zwischen Ost und West“ stammt zwar aus einer Zeit, als die geographische Lage eines Landes tatsächlich noch eine Rolle spielte, wenn Reisende sich auf den Weg machten. Heute geht es weniger um Transitwege, sondern mehr um Vermittlung. Die Türkei hat vielfältige Beziehungen in den arabischen Ländern, bildet Studenten und Militärs aus den früheren zentralasiatischen Sowjetrepubliken aus und wird als Partner für Israel im Nahen Osten immer wichtiger. Angesichts der Politikdesaster der EU in dieser Region wäre eine stärkere türkische Vermittlung dringend geboten. Das sehen die USA klarer als die EU. Es sind nicht nur militärische Gesichtspunkte, die in Washington dazu führen, daß sie auf eine türkische EU-Mitgliedschaft drängen.

Wenn die ganze Debatte überhaupt noch sinnvoll weitergehen soll, sind jetzt dringend praktische Schritte notwendig. Statt neuer symbolischer Runden und der Fortsetzung einer Menschrechtsdebatte, die erkennbar nur das Ziel hat, die Türkei aus der EU herauszuhalten, sind jetzt dringend ein paar Maßnahmen notwendig, von denen die Menschen in der Türkei auch etwas haben. Da ein Beitritt in absehbarer Zeit nicht stattfinden wird und in weiten Kreisen auch nicht gewollt wird, soll Brüssel die Karten offenlegen und tun, was möglich ist. Bis heute sind die im Rahmen der Zollunion zugesagten Kompensationszahlungen in Ankara nicht angekommen, weil Griechenland sich querstellt. Von der Marktöffnung profitieren im Moment nur europäische Konzerne. Eine Verhandlungskommission der EU, die ernsthaft versucht, den türkisch-griechischen Konflikt zu entschärfen, wäre hilfreicher als symbolische Beitrittsrunden. Reisen in die EU wird schwerer gemacht, der Kulturaustausch wird immer spärlicher. Wenn die EU in der Türkei wieder glaubwürdig werden will, muß sie anfangen, auf dieser Ebene etwas zu verändern. Jürgen Gottschlich