Tony Blair rief am Wochenende bei einigen Teilnehmern des EU-Gipfels Erinnerungen an Maggie Thatcher wach. Mit großer Beharrlichkeit drängte Großbritanniens Premier bei der Diskussion um Teilnehmer und Entscheidungskompetenz des Euro-X-Rats das eigentlich bedeutendere Thema Osterweiterung an den Rand. Aus Luxemburg Alois Berger

Umarmung ohne große Liebe

Ein paar Journalisten waren bereits ein wenig eingenickt, als Helmut Kohl die Befindlichkeiten der EU-Regierungen angesichts der Osterweiterung durchnahm. Es war immerhin schon halb zwei Uhr morgens, und außerdem hatten bereits Theo Waigel und Klaus Kinkel mit großer Liebe zu technischen Details von ihrem Tagwerk berichtet. Was die drei gesagt haben, darf hier leider nicht zitiert werden, weil es sich um das streng vertrauliche Kamingespräch handelte, zu dem das Bundespresseamt traditionell am ersten Abend von EU-Gipfeltreffen einlädt. Da werden im trauten Kreis die Hintergründe erläutert, damit wir Journalisten beim Kommentieren nicht so orientierungslos im Nebel stochern und mehr Verständnis für die konkreten Probleme der deutschen Regierung haben.

120 deutschsprachige Journalisten waren der Einladung am späten Freitag abend gefolgt und warteten auf den Wink, ihre bohrenden Fragen an die leitenden Angestellten der Regierung stellen zu dürfen. Ohne die Vertraulichkeit allzu sehr zu verletzen, können wir mitteilen, daß Kanzler Kohl und Klaus Kinkel sehr optimistisch in die europäische Zukunft schauen. Selbst Waigel gab sich außerordentlich aufgeräumt, obwohl ihn der britische Premier Blair den halben Tag lang schwer genervt hatte. Blair hatte sich auf die eigenartige Position versteift, daß die Euroteilnehmer im sogenannten Euro- X-Rat keine wichtigen Themen bereden dürften, weil Großbritannien da nicht dabei sei. Er wollte den voraussichtlich elf Euroländern nicht einmal zugestehen, daß sie ohne Aufsicht über den Wechselkurs des Euro zum Dollar und zum Yen befinden.

Mit großer Sturheit, die bei einigen Teilnehmern Erinnerungen an die Eiserne Tory-Lady Maggie Thatcher wachrief, soll Blair immer und immer wieder seine Forderungen vorgetragen haben. Das war schon deshalb nicht sehr souverän, weil von vornherein klar war, daß über Währungsfragen künftig nur die Euroteilnehmer entscheiden werden. Das steht im Maastrichter Vertrag.

Warum Blair trotzdem solange auf verlorenem Posten weiterkämpfte und bei den anderen Regierungen viel Kredit verspielte, ließ sich am Nachmittag auf einer der zahllosen Pressekonferenzen erahnen, bei denen die üblichen Wasserstandsmeldungen über die laufenden Verhandlungen verbreitet werden. Geschlagene 54 Minuten trieben britische Journalisten den geschickt ausweichenden Pressesprecher von Blair mit einer einzigen Frage vor sich her: Dürfen die Euroteilnehmer im Euro- X-Rat ein wichtiges Thema diskutieren, ohne daß London einschreiten kann?

Das scheint einen empfindlichen Nerv der britischen Seele zu treffen, vielleicht auch nur der britischen Zeitungen. Denn die fürchten offenbar von jedem Ministertreffen, bei dem kein Brite anwesend ist, eine internationale Verschwörung gegen die Interessen des Empire. „Der Euroclub will Blair nicht dabei haben“, wird der Independent am nächsen Morgen titeln. Das stimmt nicht ganz, weil sich die anderen zwar erwartungsgemäß durchgesetzt haben, netterweise aber die britische Regierung gelegentlich einladen wollen.

Für Bundeskanzler Kohl war der ganze Streit ohnehin nur ein Geplänkel um Nebensächlichkeiten, weshalb es ihm am Abend leichtfällt, den britischen Premier wegen seiner offensichtlichen Unerfahrenheit gönnerhaft in Schutz zu nehmen. Den genauen Wortlaut wird man in den nächsten Tagen in verschiedenen Zeitungen nachlesen können, wo er dann „aus Kreisen der deutschen Regierung“ verlautet.

Aus allerhöchsten Kreisen der deutschen Regierung verlautet übrigens auch, daß die Mehrheit der 15 EU-Regierungschefs die Osterweiterung gerne verhindert hätte. Weshalb sie an diesem Wochenende in Luxemburg trotzdem beschlossen haben, mit sechs Ländern Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, hat viel mit dem strukturierten Dialog zu tun, den die Bundesregierung vor drei Jahren nicht ungeschickt durchgesetzt hat. Das hörte sich damals ganz harmlos und unverbindlich an, die meisten haben vermutlich nicht einmal genau verstanden, was Kinkel da gewohnt breiig vorschlug.

Doch die regelmäßigen Treffen der EU mit 10 mittel- und osteuropäischen Staaten plus Zypern haben eine Eigendynamik entwickelt. Selbst bei EU-Gipfeln gehört es mittlerweile zur Tradition, daß die Staats- und Regierungschefs der Beitrittskandidaten zum Mittagsmenü geladen sind. Und welcher Regierungschef der EU will seinem Kollegen aus Ungarn oder Polen über den Teller weg ins Gesicht sagen, daß ihm die Überwindung der europäischen Teilung reichlich zu teuer sei. Aber einige hätten den Prozeß trotzdem gern ein bißchen verzögert.

Ironischerweise hat ausgerechnet die griechische Regierung, die von der Aussicht auf eine baldige Osterweiterung gar nicht begeistert ist, versehentlich den Starttermin festgezurrt. Als die Außenminister der EU im März 1995 das griechische Veto gegen die Zollunion mit der Türkei endlich vom Tisch haben wollten, erpreßte Athen als Gegenleistung ein konkretes Beitrittsversprechen für Zypern und Malta. Mit vagen Zusagen wollte sich der griechische Außenminister nicht abspeisen lassen. Er gab erst nach, als er den Beginn für die Beitrittsgespräche „sechs Monate nach Abschluß der Regierungskonferenz“ schriftlich hatte. An diesen Termin wurden dann auch die Aufnahmeverhandlungen mit den Mittel- und Osteuropäern angehängt.

Die Regierungskonferenz ging im Juni 1997 zu Ende, jetzt ist ein halbes Jahr vorbei. Nur Malta wird nicht dabeisein, die neugewählte Regierung hat den EU-Antrag zurückgezogen. Vor einigen Monaten hat die EU-Kommission einen Bericht vorgelegt, nach dem Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und Zypern nun reif für konkrete Verhandlungen sind.

Im hintersten Eck der Luxemburger Messehallen, wo 2.500 Journalisten ihre Laptops bearbeiten, gibt sich der polnische Regierungschef Buzek am Samstag nachmittag zuversichtlich. Er wünscht sich einen Beitritt im Jahr 2001 – „im ersten Jahr des neuen Jahrtausends“, das wäre doch ein schöner Anfang.

38 Verhandlungsteams schickt Polen nach Brüssel. Punkt für Punkt sollen sie die EU-Regelungen durchgehen, damit die anstehendenen polnischen Reformen darauf abgestimmt werden können. Wo das nicht geht, müssen vorübergehende Ausnahmeregelungen ausgehandelt werden. „Wir haben durch politische Rückschläge viel Zeit verloren“, sagt Buzek und meint damit das zeitweise Wiedererstarken der Kommunisten. „Aber wir werden die wirtschaftlichen Probleme in den Griff bekommen.“

Ein paar Schritte weiter steht der rumänische Außenminister, eingekreist von Mikrophonen. Sein Land werde nicht in Panik verfallen, doziert er, nur weil es beim Verhandlungsstart noch nicht dabei ist. Er werde, sagt er, seiner Regierung „keine Schocktherapie“ empfehlen, Rumänien werde auch so aufholen. Und außerdem gehe man ja nicht mit leeren Händen nach Hause.

Nur von der türkischen Regierung kann niemand befragt werden. Die Delegation war gar nicht erst angereist. Während Rumänien, Bulgarien, die Slowakei, Litauen und Lettland in eine erweiterte Beitrittsvorbereitung aufgenommen werden, blieb für die Türkei nur die Zusicherung, sie habe eine „europäische Berufung“ und komme für einen Beitritt in die Europäische Union grundsätzlich in Frage.

Diese Karotte hängt der Türkei zwar schon seit 1963 vor der Nase, sie wurde jetzt aber wieder frisch gemacht und zumindest nicht höher gehängt. Doch ganz wohl ist den EU-Regierungschefs dabei nicht. Sowohl der Luxemburger Premier und derzeitige EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker als auch Kohl reagierten am Samstag abend auf Fragen nach der Türkei ungewöhnlich aufgekratzt. 15 Minuten lang las der Kanzler einem türkischen Journalisten die Leviten, weil der nach den Vorbehalten wegen des Islam gefragt hatte. Alles Quatsch, wetterte Kohl, er selbst sei der beste Freund der Türkei, nur müßten dort erst einmal die Menschenrechte in Ordnung gebracht werden. Außerdem sei ein Land, das mit Drohungen den EU-Zutritt erpressen wolle, nicht akzeptabel.

Damit die Gardinenpredigt auch vollständig ankommt, ließ Kohl das ganze auch noch ins Englische übersetzen. Das macht er sonst nie. Der französische Staatspräsident Jacques Chirac wirkte da schon besonnener. Die Türkei sei in der EU grundsätzlich willkommen, sagte er zum Abschluß des Luxemburger Gipfels.

Und auch der britische Premier Tony Blair grinste aufmunternd in die Kamera des türkischen Fernsehens. Aus Kreisen der deutschen Regierung wurde das als billiger „Schönheitswettbewerb“ abgekanzelt. „Da gibt es ein großes Mißverhältnis zwischen dem, was mancher sagt und dem, was er tut.“ Hinter verschlossenen Türen habe sich keine Regierung wirklich für die Türkei eingesetzt.