■ Der EU-Affront verstört die westorientierten türkischen Eliten. Trotzdem: Silvester werden sie in Paris, nicht in Taschkent verbringen
: Draußen vor der Tür

„Da gibt's eine Party, und du wirst eingeladen. Du gehst hin. An der Tür sagt man dir: Halt! Alle anderen dürfen rein, nur du nicht. Und was passiert dann? Der Gastgeber versucht, die Partykost an dich zu vermarkten!“ Murat Birsel, der äußerst populäre Kolumnist der Yeni Yüzyil und Anchorman im Nachrichtenchannel NTV – beides Sprachrohre der liberalen Eliten –, ruft seine Leser zum Boykott von EU-Gütern auf. Ob dies befolgt wird, mag dahingestellt sein – der Faxregen in der Zeitung beweist, daß Birsel die Stimmung trifft.

Es ist nicht das erste Mal, daß die Türkei von der EU eine Absage erteilt bekommt, aber es könnte das letzte Mal sein: Ankara sieht in dem Luxemburger Beschluß, es nicht auf die Kandidatenliste für das nächste Jahrhundert zu setzen, eine Zäsur in seiner Außenpolitik seit 1945. Der Satz des Luxemburger Ministerpräsidenten Juncker, Europa hätte „endlich zu seinen natürlichen historischen Grenzen gefunden“, ist die große Ernüchterung für die Türken: Es besteht auf lange Sicht keine Chance für sie, bei der Hausparty dabeizusein.

Der Gastgeber hat den Außer- Haus-Verkauf seiner Kost schon durch Verträge abgesichert: Brüssel hat mit der Zollunion alles von der Türkei bekommen, was es wollte, und zwar zum Nulltarif: Eine immense Steigerung ihrer Exporte: Schon 1996 steigerte Deutschland seine Türkei-Ausfuhren um 34,5 Prozent; Italien um 31 Prozent, Spanien um 65 Prozent und Österreich um ganze 81 Prozent. Zollfreie Euro-Waren füllen in Istanbul und Izmir die Regale, während die EU es ihrerseits durch „Antidumpingmaßnahmen“ verhindert, daß billige türkische Produkte ihre Grenzen passieren. Bei der Unterzeichnung des Zollunionsvertrags wurden der Türkei als Wiedergutmachung für ihre Zollverluste großzügige Hilfen versprochen. Doch die werden durch Griechenland blockiert – eine leicht vorauszusehende Entwicklung für London und Paris.

Warum sollten man also der Türkei noch die Vollmitgliedschaft in Aussicht stellen? Um den Demokratisierungsprozeß im Lande voranzutreiben? Um die Zivilgesellschaft im Kampf um Reformen zu unterstützen? Um dem anhaltenden Kurdenkonflikt zu einer sozialen Lösung zu verhelfen, zum Beispiel durch Gelder, die direkt Südostanatolien zugute kommen? Noble Gründe, um dem Land wirtschaftlich und politisch unter die Arme zu greifen – diese Chance wurde jetzt endgültig vertan. Kaum sind die Islamisten durch die Militärs in die Schranken gewiesen, verkündet die EU ohne Angst vor einem Rutsch der Türkei ins „falsche Lager“ ihre eigentlich schon lange bekannte Botschaft.

So sehen sich nun die Türken nach anderen Feten um. Yilmaz wird jetzt eine stärkere Anbindung an die USA und einen Ausbau der Zusammenarbeit mit Israel vorantreiben. Überall, wo die USA mit den Europäern konkurrieren, wie etwa im Nahen Osten oder im Kaukasus mit seinen wertvollen Rohstoffreserven, wird sie die Unterstützung Washingtons suchen – und finden. Somit entfernt sie sich nicht nur von der EU, sondern auch von den islamischen Organisationen, die die Türkei kürzlich in Teheran wegen ihrer militärischen Kooperation mit Israel beinahe exkommunizieren wollten.

Die türkisch-griechischen Beziehungen werden sich zunehmend verschlechtern, obwohl beide Länder momentan von relativ jungen Technokraten geführt werden, die sich über Vorurteile besser hinwegsetzen könnten – die Türkei ist der Meinung, daß Griechenland an der Luxemburger Abfuhr maßgeblich beteiligt ist. Die Forderung Athens, bei Visaerteilungen an Türken für Schengener Staaten das letzte Wort zu haben, auch wenn der Antragsteller gar nicht nach Griechenland will, bringt für die ohnehin vom Visastreß geplagten Türken das Faß zum Überlaufen. In Athen sieht man nicht einen Erzfeind, sondern eher einen neureichen Verwandten, der das Glück hatte, rechtzeitig in der EU Fuß zu fassen und der nun aus eigenem Interesse die Mitgliedschaft der Türkei verhindert. Verheerende Folgen in der türkischen Öffentlichkeit wird es haben, wenn Brüssel den griechischen Antrag auf das letzte Wort in Schengener Visaerteilungen annimmt. Die EU hat in der Begründung ihrer Ablehnung des türkischen Antrags eine Reihe von Punkten aufgezählt, von denen fast alle auch von der Yilmaz-Regierung akzeptiert werden. Ankara gibt erstmals zu, daß die Türkei in Sachen Demokratie, Menschenrechte und wirtschaftlicher Entwicklung Defizite hat. Dreistellige Inflationsraten und die hohe Arbeitslosigkeit werden auch von den Türken selbst als die maßgeblichen Hürden auf dem Wege zur EU angesehen. Yilmaz hatte auf seiner Europatournee vorgeschlagen, eine auf lange Zeit angelegte Sonderstrategie zu beschließen, wobei er die Freizügigkeit für Türken innerhalb der EU auf 20, 30 Jahre vertagen wollte. Nur in einem Punkt will man keine Konzessionen machen: in der Zypernfrage. Daß Brüssel nun von der Türkei auch Fortschritte in dieser Hinsicht verlangt, stößt auf die größte Ablehnung: Auf jeden Schritt, den die EU mit dem griechisch-zypriotischen Teil vereinbart, wird Ankara Integrationsschritte mit den Inseltürken aufnehmen. So kann der Luxemburger Beschluß eine endgültige Teilung der Mittelmeerinsel zur Folge haben.

Der politische Dialog zwischen Ankara und Brüssel ist vorerst abgebrochen. Ab jetzt können westeuropäische Politiker es vergessen, durch „Druck von außen“ Reformen im Lande durchzusetzen. Der Glaube an „Avrupa“ ist restlos dahin – was jedoch nicht heißt, daß man sich wieder einmal beleidigt zurückzieht und darüber den Kopf zu zerbrechen beginnt, „wohin man nun gehöre“. Die Verwestlichung der Türken geht auf Jahrhunderte zurück – neben Saz spielt man schon längst auch Gitarre, und daran wird sich auch jetzt nichts mehr ändern. Die Türkei teilt mit den zentralasiatischen „Brüdern und Schwestern“ ihre Sprache und historischen Wurzeln, aber die Türken haben sehr gut in Erinnerung, daß das Wiener Kaffeehaus auch zu ihren Hinterlassenschaften in Europa gehört. Sie stehen in diesen Tagen vor Reisebüros nicht Schlange, um ihr Silvester in Taschkent zu feiern, sondern in Paris oder Rom.

Ein Land, dessen Islamistenführer Versace-Krawatten trägt, kann und wird seine jahrhundertealte Kultursynthese aus Ost und West nicht über Bord werfen – im Gegenteil. Es wird versuchen, daraus Kapital zu schlagen. Die Reformen muß die Türkei nicht der EU zuliebe verwirklichen, sondern für sich selbst. Dilek Zaptçioglu