„Jazz ist demokratisch“

■ In seiner Musik steckt immer noch Protest – meint Sonny Rollins, Rebell von damals und „Jazz Artist 1997“. Jazz ist ein Kommentar der Verhältnisse. Trotzdem wird in seiner kleinen Weltgesellschaft jeder akzeptiert, der gut spielen kann

Ihre 19minütige „Freedom Suite“ von 1958 nannten Sie einst selbst „den ersten ausführlichen sozialen Kommentar im Jazz“. Wie denken Sie heute darüber?

Sonny Rollins: Man kann sagen, daß sich einiges verbessert hat, und genauso kann man sagen, daß die Dinge schlechter geworden sind, doch letztlich geht es um den permanenten Kampf, aus der Welt einen sichereren Ort zu machen. Und eben das versuche ich, daran glaube ich. Deshalb denke ich, daß die „Freedom Suite“ heute noch genauso treffend ist wie damals, als sie entstand.

Kann man mit Musik die Welt verändern?

Man kann sicher mit bestimmten Titeln eine Wirkung erzielen, aber die Musiker sollten sich auch darüber bewußt sein, daß Jazz eine sehr fließende und kreative Musik ist. Trotzdem: Jazz hat mit den sozialen Bedingungen überall in der Welt zu tun. So ist er entstanden, und es steckt immer noch viel Protest darin.

Ihr Mitstreiter Max Roach, einst Autor der „Freedom Now Suite“, ist da pessimistischer: Die Schwarzen seien die großen Verlierer der sogenannten Integrationspolitik. Roach plädiert heute für eine Rückkehr zur Segregation, zu einer Politik des neuen Separatismus.

Ich würde ihm insofern recht geben, als die wesentlichen Probleme weiter bestehen – sie werden nicht innerhalb von zehn oder zwanzig Jahren gelöst. Man muß auch sehen, daß wir in gewisser Weise auch mit verstrickt sind. Man sollte sich, statt nur über Rassismus zu diskutieren, bewußt machen, daß wir in einer Welt leben, in der jeder bedroht ist, etwa durch ökologische Probleme. Es bleibt gar nichts anderes übrig, als gemeinsam eine Lösung zu finden, und zwar als Planetarier und nicht als Deutsche, Amerikaner, Schwarze oder Weiße, Araber oder Juden.

Und dazu kann Jazz beitragen?

Nun, man wird schnell als Verrückter bezeichnet, wenn man die eigene Position so geradeheraus präsentiert. Und sicher denken die meisten Jazzmusiker nicht an Veränderung, sondern an die nächste CD und einen dicken Vertrag. Trotzdem handelt es sich beim Jazz um eine Elite von guten Spielern, mit Hautfarbe hat das nichts zu tun. Wenn jemand gut spielt, wird er auch akzeptiert. Deshalb ist der Jazz eine so wichtige musikalische Form, eben sehr demokratisch. Das ist ein Prinzip, an dem sich die restliche Welt ein Beispiel nehmen sollte.

Das hat sie bislang nur in Maßen getan.

1926 wurde in Deutschland eine Oper geschrieben, „Jonny spielt auf“ von Ernst Krenek, die zum Thema hat, inwieweit Jazz die Welt miteinander verbinden könnte – ich glaube, sie wurde in Berlin uraufgeführt. Zu jener Zeit könnte auch bereits Duke Ellington davon erfahren haben. Die große Kraft des Jazz, Leute zusammenzubringen und Menschlichkeit in eine geteilte Welt zu bringen, ist also nichts Neues. Alles hängt miteinander zusammen. Ich brauche mich heute, mit 66 Jahren, nicht mehr damit auseinanderzusetzen, daß ich als Rebell und Irregeleiteter verschrien werde, nur weil ich mich der Tradition des Jazz als Protestmusik stelle.

Mit welchem Druck müssen Jazzmusiker rechnen, wenn sie sich als Künstler politisch engagieren?

Jazz ist eine Subkultur. Die Leute, die die Musikindustrie kontrollieren, kümmern sich nicht so sehr darum. Der Jazzmarkt ist wahrscheinlich mit dem Klassikmarkt vergleichbar, es wird nur wenig Geld damit gemacht. Also schert man sich auch nicht so sehr um die einzelnen Künstler. Jazz erreicht einfach zu wenige Leute, so denken zumindest die Leute aus der Musikindustrie darüber. Ich persönlich fühle mich von ihnen nicht unter Druck gesetzt, es ist einfach so, da sie etwas links liegen lassen. Erst kürzlich fragte mich ein Freund, warum Jazz nicht stärker in große Projekte wie z. B. die Bekämpfung des weltweiten Hungers involviert sei, woraufhin ich ihm erklärte, daß der Jazz sich glücklich schätzen würde, etwas Derartiges zu tun, daß nur Jazzmusiker leider nie gefragt würden.

Machtlosigkeit bleibt aber doch nicht ohne Rückkopplung auf die Musik.

Als ich 1993 „Times slimes“ machte, den Titel, mit dem ich gegen die Art protestierte, mit der die New York Times, die größte Zeitung der Vereinigten Staaten, gesellschaftliche Probleme behandelte, ging es mir noch darum, direkten Einfluß auf die Wahrnehmung der Bürger zu nehmen. Inzwischen benutze ich keine plakativen Titel mehr, sondern versuche, mehr über die Musik selbst zu gehen. Ich versuche, meine Position Teil der Musik werden zu lassen – als wenn ich versuchen würde, dadurch zu ihnen sprechen. Man erreicht letztlich mehr damit, als wenn man eine Massenbewegung aller Jazzmusiker organisieren würde, die dann Stücke wie „Freedom Suite“ oder „Times slimes“ präsentiert. Die Leute mit Worten zu erreichen ist ohnehin sehr schwer.

Was verbinden Sie mit dem Terminus „Jazz-Business“?

Ich denke vor allem nicht, daß Jazzmusiker kein Geld verdienen und statt dessen leiden, keine Jobs bekommen und in irgendwelchen Löchern hausen sollten. Es sollte aber doch ein Bewußtsein dafür vorhanden sein, was um einen herum passiert, und eine Methode gefunden werden, dieses in die Musik zu integrieren. Wie man es macht, muß jeder selbst herausfinden, Musik ist ja breit gefächert. Aber nur so kann Jazz mehr sein als eine Musik, die man bei Champagner und Cocktails hört.

Wie ist Ihre Erfahrung mit jungen Musikern?

Ich denke, daß einige von denen wirklich gut sind, Leute wie Kenny Garrett, James Carter, Roy Hargrove und der Pianist Stephen Scott, der derzeit mit mir spielt. Sie sind eigentlich genauso wie die Leute, mit denen ich damals anfing – mit dem einen großen Unterschied: In den vierziger und fünfziger Jahren gab es wesentlich mehr Musiker, einfach größere Bands, wie die Basie Band, Ellington, dann gab es Errol Garner, Billie Holiday, Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Billy Eckstine – eben viele unterschiedliche Gruppen von Leuten. Dennoch würde ich sagen, daß die heutigen Musiker sich auf einem ähnlich hohen Niveau befinden.

Die vor kurzem erschienene Rollins-2-CD-Box „Silver City“ dokumentiert Ihre 25jährige Arbeit auf Milestone/Fantasy. Warum arbeiten Sie gerade mit diesem Label zusammen?

Ganz einach: Bei Fantasy ließen sie mir freie Hand, und ich machte, was ich machen wollte. Man hat hier zwar nicht ein so großes Budget wie bei einer Firma wie Columbia, aber mein Standpunkt ist sowieso, daß zuviel Rummel falsch ist. Jazz ist etwas Beständiges und eben gerade keine Popmusik.

Auf Ihrer aktuellen CD „+3“ spielen Sie „What a difference a day made“. Warum?

Ich mochte diesen Song schon immer, insbesondere die Interpretation von Dinah Washington, einer meiner Sängerinnen. Sie wurde damals fälschlicherweise immer nur als Bluessängerin präsentiert. Ich habe immer noch ihren Gesang im Ohr. Nat King Cole war auch so ein Sänger, den ich in meinen Entwicklungsjahren viel hörte. Manchmal ertappte ich mich beim Spielen meiner unbegleiteten Soli dabei, daß ich ein paar Noten von „Mona Lisa“ spielte. Also dachte ich, daß es eine gute Gelegenheit sei, mal das ganze Stück zu spielen.

Gibt es auf Ihrer aktuellen CD einen Titel, der Ihnen ganz besonders am Herzen liegt?

Nein, ich habe keine speziellen Vorlieben, jedes Stück hat eine besondere Bedeutung für mich. „Cabin in the sky“ zum Beispiel ist eine Ballade, die ich hörte, als ich als junger Mann ins Kino ging und Duke Ellington sah. Er machte in dem gleichnamigen Film mit – ich weiß nicht, wie viele Leute ihn damals in Deutschland gesehen haben. Jedenfalls gab es viele tolle Künstler darin, unter anderen Ethel Waters und Louis Armstrong. Die Musik kam von Duke. Es war wirklich eine sehr eindrucksvolle Vorführung für die Zeit, als es nicht viel schwarzen Jazz im Film gab, das muß etwa 1941 gewesen sein. Ich war 11 Jahre alt, als ich den Film sah, und für mich war es sehr wichtig. Der Song war das Titelstück des Films, gesungen von Ethel Waters, und er war einer der Lieblingssongs meiner Kindheit, den ich auch von Zeit zu Zeit spielte.

Im Black-Culture-Diskurs dieser Tage ist viel von Bestandssicherung die Rede.

Wie meinen Sie das?

Wollen Sie etwas fürs kollektive Gedächtnis bewahren, wenn Sie heute die Songs Ihrer Kindheit interpretieren?

Natürlich spielt das eine Rolle. Die erste Platte, die ich als Bandleader machte – oder überhaupt meine erste Platte, das ist so lange her, daß ich mich gar nicht mehr genau erinnern kann –, enthält ein Spiritual. Das war ungefähr 1950, vielleicht war es sogar ein ganzes Album. Auf meinem ersten eigenen Album ist also bereits ein Negro-Spiritual zu finden, womit ich nur sagen möchte, man muß sich immer der Geschichte bewußt sein, in die man sich stellt. Es ist schwarze Musik, was jedoch nicht heißt, daß Weiße sie nicht spielen können, es ist schließlich globale Musik. Genauso verhält es sich, wenn man Chopin spielt. Wer sagt, daß ihn kein Schwarzer spielen kann, der führt Schlechtes im Schilde.

Welche Musik hören Sie heute?

Ich bin so voll von meiner eigenen Musik, daß es mir unmöglich ist, mich hinzusetzen und andere Musik zu hören, geschweige denn zu genießen. Vielmehr versuche ich, mit dem zu arbeiten, was ich bereits im Kopf habe. Ich versuche, meine Musik noch kraftvoller werden zu lassen, indem ich sie mehr durchdenke.

1974 wurden Sie auf den Berliner Jazztagen ausgebuht. Nehmen Sie das dem hiesigen Publikum immer noch übel?

Wir waren nahe daran, uns über ein Konzert beim Berliner JazzFest 1996 einig zu werden, doch dann gab es in letzter Minute das, was man Terminschwierigkeiten nennt. Hoffentlich wird es bald mal klappen, denn ich möchte sehr gern wieder mal in Berlin spielen, und so jung bin ich ja nun auch nicht mehr. Ein Freund sagte mir kürzlich erst, daß die Leute in Berlin sehr oberflächlich und materialistisch geworden seien und nicht mehr so künstlerisch orientiert sind wie früher. Ich glaube jedoch, daß es noch genug Kunstinteressierte in Berlin gibt.

Als Sie sich vor Jahren den Irokesen-Haarschnitt zulegten – war das Image, Provokation oder beides?

Das war mehr ein Image für die Eingeborenen Amerikas, für mich eher ein individuelles Ding als ein Jazz-Image. Zu der Zeit sah ich mich nicht als Repräsentanten der Jazz-Community, ich war einfach nur ein Jazzmusiker. Ich dachte folglich nicht, daß es als Statement gewertet werden würde.

Wie wichtig ist das Image für einen Jazzmusiker?

Da sollte man von außen nichts auferlegt bekommen. Klar, als ich bekannt wurde, trugen viele Musiker diese großen Brillen und ein Barett, zum Beispiel Dizzy Gillespie. Das war eine Art Uniform für die Bebop-Periode. Dieses sind Dinge, mit denen sich eine Gruppe von anderen abhebt, und die auch ein Zeichen für Solidarität in einem bestimmten Moment sein können, doch ich denke nicht, daß so etwas große Wichtigkeit besitzt. Nehmen wir meinen Freund Thelonious Monk: Thelonious Monk trug eine Menge von diesen chinesischen Hüten. Meiner Meinung nach sollte damit eher eine bestimmte Verbundenheit aller Menschen ausgedrückt werden als etwas besonders Exzentrisches, wie es häufig in der Presse und in Filmen dargestellt wird. Wenn heutzutage ein Musiker etwas Besonderes tragen möchte, ist das jedoch okay. Wissen Sie: Es geht eigentlich niemanden etwas an außer ihn selbst. Interview: Christian Broecking