Unterkühltes Standbild zweier Familien

Ang Lee inszeniert mit „Der Eissturm“ die Nachwehen der sexuellen Befreiung. Zwischen Fernseher und Sitzsack probt die Nachbarschaft den Partnertausch und möchte alles, nur nicht spießig erscheinen. Währenddessen schwillt der Sturm vor der Tür weiter an  ■ Von Gudrun Holz

Freudloses Ehefiasko auf erdfarbenen Teppichbelägen und moderne Kunst vor geschmacklosen Tapeten. Impressionistische Winteransichten, eingefrorene Hochspannungsmasten, die wie ein Zauberwald im Nachtwind klimpern – das alles will so gar nicht zum bunten Rivival-Bild der siebziger Jahre passen. Der Blick zurück auf die Gerade-noch-Watergate-Dekade fällt anders aus als erwartet. Da ist der hochoffizielle Betrugsfall Nixon einerseits, die Energiekrise. Die Beatles nehmen Soloalben auf, der Krieg in Kambodscha. Jimi Hendrix ist tot, die „Möwe Jonathan“ wird verfilmt.

Durch die Lektüre von Kinsey & Co instruiert

Vor diesem Hintergrund entrollt sich im knappen Rahmen von 24 Stunden ein Period-Piece ohne Nostalgie. Ein atmosphärisch unterkühltes Standbild zweier Familien, der Hoods und der Carvers, in der Provinz von New Canaan, Connecticut, nicht weit von New York. Finstere Zeiten das.

Unweit des Flokatibettvorlegers erlebt da Benjamin Hood (Kevin Kline) den Katzenjammer total, ohne daß vorher wenigstens ein bißchen Ekstase gelebt werden konnte. Seine Nachbarin und Gelegenheitsgeliebte Jancy Carver (Sigourney Weaver), eine stahlharte Schöne, die sich durchweg rattig benimmt, bescheidet ihn bündig, er langweile sie und einen zweiten Ehemann brauche sie nun wirklich nicht. Dann läßt sie den erwartungsfrohen Lover schnöde im Gästebett schmoren.

Der Eindruck von verloren wirkenden Nachwehen des großen Sturms namens sexuelle Libertinage, der wohl anderswo stattfand, gipfelt in einer Schlüsselparty, bei der es ja im Gegensatz zur Bottleparty nicht darauf ankommt, was man mitbringt, sondern wen man mit nach Hause nimmt. Die ganze Nachbarschaft probt den Partnertausch und möchte, von Kinsey und Co belesen, alles, nur nicht spießig erscheinen. Als dann alle Autoschlüssel in der Salatschüssel liegen, entspinnt sich eine ebenso schleppende wie ranzige Veranstaltung. Für Hoods Frau Elena (Joan Allen, famos als Standardausgabe des angehärmten all-amerikan-houswife) endet die unerotische Verlosung als klemmige Kletterpartie auf dem Vordersitz. Vor allem wegen des knöchellangen Strickrocks.

Ang Lee, selbst Jahrgang 54, in Taiwan geboren und seit Mitte der Siebziger in Amerika, hat sich hier auf die Position des diskreten und sogar etwas distanzierten Beobachters zurückgezogen. Nach der Trilogie von „Pushing Hands“ (1992), der Komödie „The Wedding Banquett“ (1993) und „Eat Drink Man Woman“ (1994), die allesamt um die asiatisch-amerikanische Identitätsthematik und das Austarieren verschiedener kultureller Wertigkeiten kreisten, folgte als Kostümdrama der großen Gefühle die Jane-Austen-Verfilmung „Sense and Sensibility“ (1995).

Kein Endspiel, sondern Katharsis mit Ausblick

„Der Eissturm“ nun ist ein überraschend unpatriotischer Film aus der jüngsten Geschichte von Lees Wahlheimat. Ein Epochenstück, bei dem die Kostüme stimmen. Aber Lee kommt schnell zum psychologischen Kern des Dramas. Ein Thanksgiving-Essen im Wintergarten der Hoods inszeniert er als Mobile einander ausweichender Blicke und zur Farce gewordener familiärer Interaktion. Doch anders als die Romanvorlage („Der Eissturm“, 1994) von Rick Moody, der seine eigene Kindheitsperspektive als genüßlich-bissige und bösartige Abrechnung – 20 Jahre danach – und zorniges Bekenntnis ohne Happy-End verfaßte, bleibt der Ton bei Lee stets zart und melancholisch. Wo Moody seziert („Eine Geliebte zu haben war so, wie wenn man als Agnostiker die Tröstungen der Religion entdeckte. Wenn man Punkt vier kapitulierte und sich einen hochprozentigen Drink genehmigte. Es ging nicht mehr um große Brüste in Zauberkreuz- BHs. Es ging um Trost.“), läßt Lee auch dem vom Versagen gebeutelten Ben Hood in erster Linie Mitgefühl zukommen. Kein Endspiel, sondern Katharsis mit Ausblick.

Wie trügerische Fixsterne am Nachthimmel wirken die zwei Häuser der beiden Familien. Chrom, Glas, kalte Materialien anstelle von kühlen Kommentaren. „Die Familie war eine dumme Idee. Sie war der äußerste Rand eines kleinen Universums, und keiner wußte, was jenseits davon lag“, so Moody. Und hier, zwischen Fernseher, Erdnußflips und Sitzsack, wird der eigentliche Takt der Ereignisse vorgegeben. Allen voran Wendy Hood (Christina Ricci, „The Addams Family“), setzen die Kinder der Carvers und Hoods die schlauen Verlogenheiten der Eltern in pubertäre Taten um. Im selben Gästebett wie ihr ehebrecherischer Daddy übt die resolute und entzückend altkluge Wendy das erste zärtliche Kuscheln mit dem Nachbarsjungen Mikey. Noch krasser bringt ihr Auftritt mit einer Nixon-Maske, in flagranti von Hood erwischt, die verquere Lage auf den Punkt. Womit schließlich kann man sich besser tarnen als mit der verrufensten Politikervisage around? Währenddessen schwillt der eisige Sturm vor den Türen an. Es wird zur Katastrophe kommen.

„Der Eissturm“. Regie: Ang Lee. Mit Kevin Kline, Sigourney Weaver, Joan Allan, Jamey Sheidran u.a. USA 1997, 112 Min.