: Niedergang des linken Hoffnungsträgers
Auch wenn Kim Dae Jung heute in seinem vierten Anlauf die Präsidentschaftswahlen in Süd-Korea gewinnen sollte, ist von dem 74jährigen Kandidaten der einstigen Demokratiebewegung nicht mehr viel zu erwarten ■ Aus Seoul Georg Blume
Großkonzerne gehen bankrott, Banken machen pleite, die Regierung ist handlungsunfähig. Für Kontinuität im modernen Süd-Korea müssen derzeit andere sorgen: zum Beispiel die drei Frauen, die im Arbeiterviertel von Inchon, einer Industriestadt am Gelben Meer, Chinakohl für das koreanische Nationalgericht Kimchi schneiden. Die robusten Frauen in Jeans und Wollpullovern arbeiten für ein Restaurant in der Nähe einer Automobilfabrik. Noch läuft das Geschäft gut. Doch in der Fabrik kursieren Gerüchte, daß Massenentlassungen bevorstehen. Diese Angst gibt es jetzt in jedem großen südkoreanischen Unternehmen.
Die Frauen schauen nicht gleichgültig zu: Voller Zorn sprechen sie von den Fehlern ihrer Regierung, den korrupten Machenschaften der Politiker und dem Versagen der oligarchisch geführten Industriekonglomerate, die man in Korea chaebol nennt. „Die kleinen Leute tragen am schwersten an der Krise“, erklärt Restaurantbesitzerin Park Suk Rae, 45, den Unmut der Arbeiterinnen. Doch weiter gehen die Klagen nicht. Pessimismus ist bei den Frauen nicht angesagt. „Es steht nicht nur schlecht um unser Land.“ Park legt den Kohl aus der Hand und erklärt feierlich: „Am Donnerstag wählen wir alle Kim Dae Jung. Er ist ein Mann aus dem Volk und wird diesmal die Wahlen gewinnen.“
Sonderfall Süd-Korea: Wenn es überhaupt eine Linke in Ostasien gibt, die den Namen heute noch verdient, dann ist sie südkoreanisch. In Japan sind die Sozialisten zur Regierungspartei mit den Konservativen verschmolzen. In China, Vietnam und Nord-Korea haben sich die Kommunisten im Totalitarismus eingeigelt. In Taiwan hat es eine Linke nie gegeben. Aber auf der Halbinsel ist alles anders: Hier tritt mit dem Oldtimer Kim Dae Jung ein erklärter Sozialdemokrat zu den Präsidentschaftswahlen an, der all das verspricht, was in Zeiten der Globalisierung aussichtslos erscheint: Schaffung einer Sozial- und Arbeitslosenversicherung, Arbeitszeitverkürzung und Job-sharing, mehr Arbeitnehmerrechte und Mitbestimmung in den Betrieben. „Wir unterscheiden uns stark von den anderen Parteien“, versichert Kims Sprecher Kong Han Chul mit der braven Miene eines altgedienten Parteifunktionärs. „Wir kümmern uns um die Arbeiter.“ Es klingt kaum glaubhaft. Doch die Frauen in Inchon meinen, es sei die Wahrheit.
Derweil überschlagen sich die Ereignisse. Der ewige Außenseiter Kim Dae Jung weiß nur zu gut, daß der Zeitgeist wieder einmal gegen ihn ist. Seit Anfang Dezember läßt sich nicht mehr verleugnen, daß sich Süd-Korea in einer dramatischen Finanz- und Wirtschaftskrise befindet. Der Internationale Währungsfonds (IWF) mußte mit einem Hilfspaket im Umfang von 57 Milliarden Dollar einspringen, um das Land vor dem finanziellen Bankrott zu bewahren. So tritt Kim diesmal nicht nur gegen eine korrupte Regierungspartei an, er hat es auch mit IWF und Weltbank zu tun.
Für die internationalen Fondsmanager und Bankiers, die dieser Tage über die Zukunft der südkoreanischen Wirtschaft entscheiden, ist die Vorstellung, einen volkswirtschaftlich unerfahrenen Gewerkschaftsfreund an der Regierungsspitze in Seoul zu sehen, schlicht nervtötend. „Wenn ich gewählt werde, werde ich neue Verhandlungen mit dem IWF aufnehmen, um die Unabhängigkeit unserer Wirtschaft wiederherzustellen“, drohte Kim kurz vor der Wahl. Den Finanzgurus in New York und Tokio drehte sich der Magen um. Ohne IWF-Gelder wäre die Zentralbank in Seoul heute bereits zahlungsunfähig. Nun aber kommt einer daher, der vielleicht schon morgen Präsident sein könnte, und will auch die bescheidenen Reformen wieder in Frage stellen, die die IWF-Manager mühsam der südkoreanischen Regierung abgerungen hatten. „Unverantwortlich“, urteilte das Wall Street Journal. Den Wahlkämpfer aber stört das nicht. Vom IWF hat Kim keine Stimmen zu erwarten.
Je tiefer nämlich Süd-Korea in der Krise versank, desto höher stiegen die Chancen der Opposition. Unter normalen Bedingungen hätte der Wahlkampf zugunsten der Regierungspartei verlaufen müssen. Zwar hatte Kim Dae Jung lange Zeit in den Umfrageergebnissen vorn gelegen. Doch der Grund dafür war lediglich, daß das konservative Lager zwei populäre Kandidaten aufgeboten hatte: den angesehenen Richter Lee Hoi Chang und den jung-dynamischen Provinzgouverneur Rhee In Je.
In Süd-Korea gewinnt derjenige das Rennen, der schon beim ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhält. Einen zweiten Wahlgang gibt es nicht. Kim profitierte also von der Spaltung seiner Gegner. Doch der Wind drehte erwartungsgemäß gegen ihn, als sich Lee als der stärkere der zwei konservativen Kandidaten durchsetzte. Der Vorsprung der Opposition in den Umfragen schmolz in den letzten Wochen dahin, und die Regierungspartei sah sich bereits auf der Siegerstraße, als Börseneinbruch und Währungsverfall Süd-Koreas Selbstbewußtsein von einem Tag auf den anderen tief in die Krise stürzten.
Das war der Moment, auf den „DJ“, wie die Koreaner den Oppositionschef nennen, immer gewartet hatte. Dreimal zuvor war der ehemalige Dissident, dessen mutiger Kampf gegen die südkoreanische Diktatur in den 70er und 80er Jahren die ganze Welt beeindruckte, bei Präsidentschaftswahlen erfolglos gewesen. Jetzt besitzt er zum erstenmal eine echte Siegeschance.
In den letzten Tagen vor der Wahl rechnete das politische Establishment in Seoul fest mit der Wahl Kims. Der Oppositionskandidat wirkt bei Fernsehdebatten souveräner. Sein widerspenstiges Auftreten gegenüber dem IWF findet in der Bevölkerung Anklang. Doch was hat sie von seinem Wahlsieg zu erwarten?
Schon seit langem versucht Kim seine radikale Vergangenheit abzuschütteln. Im vergangenen Winter, als die Gewerkschaften gegen die Aufhebung des Kündigungsschutzes streikten, war DJ plötzlich untergetaucht. Auf Studentendemos, die er vor zehn Jahren noch anführte, hat sich der Veteran der Demokratiebewegung seitdem nicht mehr sehen lassen.
Der neue Kim war vor wenigen Tagen auf einer Reise nach Taegu zu besichtigen. Im reichen Südosten der Halbinsel stieß der Arbeiterliebling bisher nie auf viel Gegenliebe. Die Provinz Kyongsang, die die unabhängige Stadt Taegu einschließt, stand historisch oft im Konflikt mit der armen Cholla-Provinz im Südwesten, der Kim entstammt. Das Wahlverhalten vieler Südkoreaner wird noch heute von diesem regionalen Zugehörigkeitsgefühl bestimmt. Während Kim in Cholla stets mit neunzig Prozent der Wählerstimmen rechnen konnte, kam er im bevölkerungsreicheren Kyongsang kaum über zehn Prozent hinaus. Das kostete ihn stets den Wahlsieg. In diesem Jahr aber stellte Kyongsang nicht wie früher den Regierungskandidaten. Und Kim zählte im Feindesland auf neue Verbündete.
Schon am Flughafen in Taegu erwarteten den Oppositionsführer die gealterten Prinzen vergangener Diktaturen. Da war Park Chul Un, der Schwager des ehemaligen Präsidenten Roh Tae Woo, der heute wegen Korruption im Gefängnis sitzt. Auch Park Ji Man, der Sohn des 1979 ermordeten Präsidenten Park Chung Hee, grüßte den Gast aus Cholla. Doch nicht aus neugewonnener Zuneigung füreinander, sondern aus rein wahlarithmetischen Gründen gaben sich die einstigen Kontrahenten die Hand. Erst im Herbst hatte die Partei Kims mit den Anhängern des früheren Präsidenten Park eine Koalition vereinbart, die DJ das Präsidentenamt und einem konservativen Politiker den Posten des Premierministers sichern soll. In Taegu gingen Kim und Park Chul Un nun gemeinsam auf Stimmenfang – der gealterte Revolutionär neben einem jungen, autoritären Politmanager.
Wie wenig Kim noch auf sein politisches Erbe achtet, verdeutlichte ein Besuch im Geburtshaus Park Chung Hees. Neben Verneigungen vor den Ahnenbildern und Lobhudeleien des Verstorbenen sprach der ehemalige Dissident kein kritisches Wort über den Diktator, der ihn 1973 ermorden lassen wollte. Koreanische Geheimdienstagenten hatten damals den jungen Oppositionspolitiker in einem Tokioter Hotel gekidnappt und aufs Meer entführt, wo sie ihn ertränken wollten. Nur die Intervention Washingtons rettete Kim das Leben. Zehn Jahre später mußte die US-Regierung noch einmal eingreifen, um Kim vor dem Todesurteil der Militärjustiz zu retten. Doch es hat den Dissidenten Kim mit der Zeit verbittert, daß ihm sein beispielloser Opfergang in der südkoreanischen Bevölkerung kaum zusätzliche Sympathien einbrachte.
„Von seinen demokratischen Idealen ist nichts übriggeblieben“, urteilt der Redaktionsdirektor der großen Seouler Tageszeitung Joong Ang Ilbo, Kim Young Hie, über den Mann, den zu wählen er dennoch empfiehlt. Der erfahrene Journalist hält dem Oppositionsführer zugute, daß er mit den sozialen Mißständen im Land besser vertraut sei als andere. Cholla sei eben ein Armenhaus. Doch mit einer anderen Politik ist nach einem Machtwechsel kaum zu rechnen. „Durch die Koalition mit den Park-Anhängern mußte Kim zu viele konservative Wahlversprechen geben. Er ist eben in jeder Hinsicht weich geworden“, resümiert der politische Beobachter.
Überall dort, wo man die politischen Verbündeten des einstigen Dissidenten vermutet, fand man sie in den letzten Tagen nicht mehr. Lee Youn Taek, der derzeit erfolgreichste Theaterregisseur in Seoul, lacht nur, als er sich zu den Aussichten im Fall eines Oppositionssieges bei den Präsidentschaftswahlen äußern soll: „Dann bekommen die Freunde Kim Dae Jungs mehr Geld.“
Das Mißtrauen gegenüber der Opposition reicht in den Gewerkschaften sogar so weit, daß der Führer des unabhängigen Arbeiterverbandes KCTU, Kwon Young Kil, selbst bei den Wahlen antritt. Der KCTU hatte zu Jahresbeginn einen erfolgreichen Generalstreik geführt, Kwon flimmerte damals für kurze Zeit über die Bildschirme in aller Welt. Im Wahlkampf versuchte der Gewerkschaftskandidat mit Pauschalattacken gegen das Ausland eine neue Radikalität zu erzeugen: „Amerikaner und Japaner versuchen jetzt die koreanische Wirtschaft unter ihre Kontrolle zu bringen“, grollte Kwon. Er rief zum Boykott ausländischer Produkte auf. „Die Arbeiter reicherer Länder sollten dafür Verständnis haben, weil ihre Interessen besser vertreten werden“, warb Gewerkschaftssprecher Chung Sung Hee für den nationalistisch gefärbten Wahlkampf seines Kandidaten.
Den meisten Koreanern war schnell klar, daß von links keine weitere Alternative zu erwarten war. Wenn sie die Regierungspartei, die das Land in die Katastrophe gesteuert hat, ablösen wollen, bleibt ihnen trotzdem nur eine Wahl: Kim Dae Jung.
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