Spätkauf

■ Bowling in Cleveland

Während seiner Arbeit über das amerikanische Statussystem stellte der Literaturwissenschaftler Paul Fussell seinen Interviewpartnern wiederholt die Frage, ob es ihrer Ansicht nach soziale Klassen in Amerika gebe. „Das ist das Schmutzigste, das ich je gehört habe“, lautete eine Antwort. So gesehen ist Fussells „Cashmere, Cocktail, Cadillac“ ein sehr obszönes Buch. In dem Wegweiser durch die amerikanische Kleider-, Waren- und Verhaltensordnung kommt Fussell auf ingesamt neun unterschiedliche Klassen in god's own country, das einiges darauf hält, eine nichtkommunistische, klassenlose Gesellschaft zu sein. Dabei bleibt Fussell nichts verborgen, von den Anzügen der Präsidenten bis zur Aussprache des Mittelständlers mit Abstiegsangst. Das Gespür für die feinen Unterschiede schmeckt natürlich verdächtig nach dem Unterscheidungswesen Pierre Bourdieus. Der Vorzug der soziologischen Feinmalerei Fussells besteht darin, daß sie weniger akademisch und systemlastig ist, als vielmehr amüsant und spielerisch. Man muß kein Amerika-Kenner sein, um Gefallen an solcher Lust an der Differenz zu finden. Seine Klasseneinteilungen sind äußerst elastisch und wirken an keiner Stelle ausgedacht. Die Gesellschaft, wie Fussell sie sieht, scheint nicht zuletzt erst während seiner Recherche entstanden zu sein. Die oberste Klasse nennt Fussell die Unsichtbaren oben. Auf den Gedanken hat ihn ein Arbeiter in Boston gebracht, der sagte: „Wenn ich an einen wirklich reichen Mann denke, dann stelle ich mir einen dieser Landsitze vor, wo man das Haus nicht von der Straße aus sehen kann.“ Doch nicht alle Unsichtbaren sind reich. Die aus allen Sozialsystemen herausgefallen sind, sieht man ebenfalls nicht. HN

Paul Fussell: „Cashmere, Cocktail, Cadillac“. Steidl-Verlag, Göttingen 1997, 240 S., 34 DM