Helenio Herreras Geist spukt im Parkstadion

■ Der Erfinder des Defensivfußballs ist tot, doch das von ihm begründete Zeitalter der großen Vorsicht dauert dank gefügiger Jünger wie Huub Stevens oder Giovanni Trapattoni fort

Anfang November ist Helenio Herrera gestorben. Das ist sehr traurig, weil nun kein Fernsehsender die verpaßte Chance nachholen kann, den Meistertrainer in einen Hubschrauber zu setzen und ihn zum Gelsenkirchener Parkstadion zu fliegen. Dort hätte man ihn Platz nehmen lassen und hinterher befragen können, und es hätte ihm gefallen. Wahrscheinlich hätte er, unterstützt von der Autorität seiner mehr als 80 Jahre, so etwas gesagt wie: „Sie haben gut bei mir gelernt.“ Denn Herrera war immer der Meinung, daß seine Arbeit als Trainer eine Art historischen Nullpunkt des Fußballs beschrieben hat. Er hat sogar einmal behauptet: „Ich habe das Trainingslager erfunden.“ Mit ihm begann das Herrera-Zeitalter – und es geht bis heute.

Helenio Herrera hat Anfang der sechziger Jahre mit Inter Mailand zweimal den Europapokal der Landesmeister gewonnen. In der Geschichtsschreibung des Fußballs kommt er in der Regel so gut weg wie Stalin in der politischen. Nicht nur, weil man ihm einen diktatorischen Führungsstil unterstellte, er sich genüßlich „Sklaventreiber“ nennen ließ und angeblich sogar einer seiner Spieler starb, weil er dessen Herzschwäche nicht ernst nahm. Herreras wesentliche Doktrin war es aber, daß man Spiele nicht unbedingt dadurch gewinnt, daß man mehr Tore als der Gegner schießt, sondern weniger kassiert. Seine dazugehörige taktische Neuerung war der „Catenaccio“ genannte Abwehrriegel. Herrera hat also das Böse in die Welt des Fußballs gebracht, die Defensive und den Zynismus. Er hat damit eine Art Virus freigesetzt, der seitdem das Denken des Spiels befallen hat.

Natürlich gibt es immer wieder die großen Gegenentwürfe, bei denen der Sieg durch Spielfreude, Sturmdrang und Spiel mit offenem Visier gesucht wird. Ajax Amsterdam darf dafür beharrlich als Kronzeuge aufgerufen werden, der AC Mailand unter Arrigo Sacchi und der FC Barcelona unter Johan Cruyff. Aber sie sind rar, und in der Bundesliga dieser Tage herrschen die Adepten von Helenio Herrera. (Kein Wort über Kaiserslautern an dieser Stelle, das nur alle Ausnahmen zu allen Regeln bildet.) Nicht also, daß Schalke 04 den Catenaccio wiederbelebt hat, aber Herrera hätte den Geist von Stevens Spielauffassung bei jener Mannschaft gespürt, gegen die man eigentlich keine Tore schießen kann. „Die Null muß stehen“, heißt das geflügelte Wort im Parkstadion, und bereits zehnmal in dieser Bundesligasaison beendete die Mannschaft ihre Spiele ohne Gegentor, aus Schalke Null Vier ist Schalke Zu Null geworden.

Ganz so erfolgreich in der Defensive war der FC Bayern München zuletzt nicht. Aber Giovanni Trapattonis Karriere als Spieler fand während der Hochzeit des Catenaccio in Italien statt. Vielleicht haßt er deshalb wildes Offensivdurcheinander wie eine ordnungssüchtige Hausfrau unaufgeräumte Wohnzimmer. Und vielleicht schaut er auch aus diesem Grund bei Gegentoren immer so betreten, als hätte man ihn mit offenem Hosenstall erwischt. Die defensive Spielweise des FC Bayern ist selbstverständlich wesentlich verwerflicher als die des FC Schalke, weil Trapattoni über die viel besseren Spieler verfügt. Er betrügt uns um hinreißenden Fußball, aber weil der Italiener inzwischen 58 Jahre alt ist, weiß er, daß doch nur Siege zählen.

Das war dann wohl die auch wichtigste Erkenntnis von Helenio Herrera. Aus diesem Grund erzählte er gerne von dem großen Alfredo di Stefano, der seine müde oder nachlässig werdenden Mitspieler auf dem Feld immer anraunzte: „Ihr spielt mit meinem Geld.“ Helenio Herrera, der übrigens auch behauptet, den Libero erfunden zu haben, hat sein Wirken so zusammengefaßt: „Nach mir haben die Trainer angefangen, gutes Geld zu verdienen.“ Und dazu hat er Daumen und Zeigefinger aneinander gerieben und gelacht. Christoph Biermann